Beitrag 01_2018

Verstörungen im deutsch-polnischen Verhältnis - Eine Ursachenforschung

von Wolfgang Müller-Michaelis

Blickt man dieser Tage aus Deutschland auf unseren östlichen Nachbarn kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in Polen manches aus dem Ruder gelaufen ist. Verglichen mit der euphorischen Stimmung nach dem Fall der Berliner Mauer, als maßgeblich mit deutscher Unterstützung die Aufnahme Polens in die EU betrieben wurde, ist das heute von der national-konservativen polnischen Regierung bestimmte politische Klima von europafreundlich in eisige Ablehnung umgeschlagen.

Was war doch nach der Wende alles möglich gewesen? Der Sprecher der vertriebenen Pommern, Philipp von Bismarck, dessen Stellvertreter ich damals war, packte die Gelegenheit beim Schopf und erreichte es in seiner gleichzeitigen Funktion als Präsident des Wirtschaftsrats der CDU, dass die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards in die neu auszuarbeitende polnische Verfassung aufgenommen wurde. So ist die Republik Polen heute das einzige Land der Welt, in dem die deutsche Soziale Marktwirtschaft Verfassungsrang besitzt. Als Dank wurde Philipp von Bismarck auf einem der ehemaligen Familiengüter im pommerschen Külz zur Ausbildung polnischer landwirtschaftlicher Fachkräfte die Gründung einer Europäischen Akademie zuerkannt, die zugleich für Tagungen von Gremien der Pommerschen Landsmannschaft offen sein sollte. Die Pressebilder von der Einweihung zeigten Bundeskanzler Helmut Schmidt und Berthold Beitz einträchtig neben dem polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki und Vertretern des polnischen Episkopats.

Zu jener Zeit Herausgeber der Pommerschen Zeitung gab ich meiner Genugtuung darüber Ausdruck, dass mit dem geplanten Beitritt Polens zur EU auch unser geliebtes Pommern wieder unter das gemeinsame Dach des freien Europa aufgenommen werden würde. Tatsächlich brachte die EU-Mitgliedschaft Polen in den eineinhalb Jahrzehnten, die inzwischen verstrichen sind, eine massive Unterstützung beim Auf- und Ausbau seiner Wirtschafts-, Landwirtschafts- und Verkehrsinfrastrukturen. Auch haben die polnischen Bürger durch die Freizügigkeitsregelungen im gesamten EU-Raum erheblich an Lebensqualität gewonnen. Vor diesem Hintergrund einer alles in allem gedeihlichen Entwicklung der Reintegration Polens in das freie Europa, die auch die Überführung des deutsch-polnischen Verhältnisses in den Status der Normalität einschloss und der es immerhin zuließ, ein Nato-Bataillon in Stettin unter deutscher Führung zu stationieren, kann man die europafeindliche Politik der amtierenden polnischen Regierung unter der rechtsextremen Partei Recht und Gerechtigkeit (PIS) nur schwer verstehen.

So ist es einerseits ein Zeichen des hohen Ansehens, das Polen in Europa genießt, dass das aus dem ehemaligen Ostblock in das freie Europa gewechselte Land heute mit EU-Ratspräsident Tusk den höchsten politischen Amtsträger der Europäischen Union stellt. Andererseits gilt Ratspräsident Tusk gerade wegen seines die EU repräsentierenden hohen Ranges bei der derzeitigen politischen Führung Polens als Vertreter einer Gegenmacht, der mit Widerstand zu begegnen ist. Das reicht von der totalen Ablehnung der Aufnahme von EU-Flüchtlingskontingenten bis zur Verabschiedung einer Justizreform im polnischen Parlament, die demokratische Verfassungsnormen verletzend dem Justizminister der Regierungspartei erlaubt, nach eigenem Ermessen die Präsidenten der ordentlichen Gerichte auszutauschen. Das daraufhin von der EU-Kommission eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren kümmerte die polnische Regierung so wenig, dass die Eröffnung eines Rechtsstaatlichkeitsverfahrens folgte, das immerhin den Stimmrechtsentzug im EU-Ministerrat zum Ergebnis haben könnte.

Um einen besonders empfindlichen Streitpunkt zwischen der polnischen Regierung und der EU geht es beim Eilverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Sachen Abholzung eines der letzten europäischen Urwälder bei Bialowieza an der polnisch-weißrussischen Grenze. Der Urwald zählt zum UNESCO-Weltkulturerbe und ist wegen seiner Artenvielfalt unionsrechtlich geschützt. Auch hier betrachtet die polnische Regierung das Eingreifen des EuGH als Einmischung in innere polnische Angelegenheiten.

Wie unterirdisch der Streit zwischen der amtieren polnischen Regierung und der EU inzwischen ausgeartet ist, zeigt die innerpolnische Reaktion auf eine Twitter-Meldung, die Ratspräsident Tusk im Herbst 2017 versandt hatte und in der er die eben genannten Konfliktfelder auflistete, das aus dem Zweiten Weltkrieg herrührende Zerwürfnis zwischen Polen und der Ukraine anfügte und diese Streitpunkte als Gefahr für das friedliche Miteinander der Europäer bezeichnete.

Sofort giftete die nach diesem Vorfall abgelöste damalige polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo zurück, Tusk habe als EU-Ratspräsident nichts für Polen getan, statt dessen nutze er sein Amt, um die polnische Regierung anzugreifen. Parteifreund Ryszard Czarnecki, der immerhin stellvertretender Präsident des Europa-Parlaments in Straßburg ist, setzte noch einen drauf, indem er Tusk als einen „Mann des Kreml“ verunglimpfte, der „an einen Teufel im Messgewand erinnere, der zur Messe rufe“.

Derartige Ausfälle als Entgleisungen politischer Hitzköpfe abzutun, verkennt, dass diese Scharmützel an der Staatsspitze in den Medien und auf der Straße nur allzu bereitwillig reflektiert werden. So beim Marsch der Fünfzigtausend in Warschau aus Anlass des Nationalfeiertages am 11. November 2017. Was der Feier des 99. Geburtstages des freien Polen dienen sollte, geriet unter dem Einfluss rechtsextremer Gruppen zu einer Demonstration unappetitlicher antisemitischer, faschistischer und nazistischer Exzesse, wobei Transparente mit Parolen vom „reinen Blut“ und „weißen Europa“ gezeigt wurden und mit Sprechchören sogar zum „F….“ von Flüchtlingen aufgerufen wurde.

Um den tieferen Ursachen für diese im heutigen Europa wohl einzigartige Austragung des politischen Meinungskampfes auf den Grund zu gehen, muss man auf das Datum des polnischen Nationalfeiertags blicken, der sich 2018 zum hundertsten Mal jährt. Am 11. November 1918 war Polen nach drei Teilungen und Besetzungen, an denen seine Nachbarn, das zaristische Russland, das Königreich Preußen und die Habsburger Monarchie (Österreich-Ungarn) beteiligt waren, von den Siegern des Ersten Weltkriegs als unabhängiger Staat wieder errichtet worden. Seine letzte große und unbeschwerte Epoche vor den Teilungen hatte Polen während der Vereinigung mit Sachsen Ende des 17. Jahrhunderts erlebt, als August dem Starken die polnische Krone angetragen wurde und Polen als unabhängiges Teildominium unter der gemeinsamen polnisch-sächsischen Krone von Dresden aus regiert wurde. Der Zufall hat es gefügt, dass ich in meiner Dresdner Zeit nach der Wende als Direktor der Stiftung Frauenkirche mein Büro in einem der Lieblingsgemächer August des Starken im südwärtigen Turm des Residenzschlosses gegenüber dem heutigen Taschenbergpalais hatte. Die an diese Glanzzeit anschließende polnische Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts war durch die Teilungen bestimmt, die mit der Besetzung Schlesiens unter Friedrich dem Großen 1772 begannen. In der zeitgenössischen Geschichtsbetrachtung werden die drei polnischen Teilungen gern den Preußen als dem großen Störenfried der damaligen Zeit angelastet, obgleich Österreich-Ungarn und das zaristische Russland in stärkerem Maße daran beteiligt waren. In Vergessenheit geraten ist auch, dass in den Nachwehen der Französischen Revolution während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz Europa von einem Freiheitsdrang gegen die absolutistischen Mächte erfasst war, die nach dem Wiener Kongress 1815 wieder das politische Leben bestimmten und gegen die die revolutionären Bewegungen in Frankreich, Belgien, Italien, Ungarn und Spanien aber auch in Griechenland gegen das Osmanische Reich gerichtet waren.

Weithin unbekannt ist im heutigen Deutschland, das sich seine Geschichte gern von den eigensüchtigen Siegern zweier Weltkriege „vorschreiben“ lässt, dass die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts auch hier eine durchgehende Kampfzeit liberaler Kräfte gegen die absolutistischen Vormächte war, die vom Wartburgfest der Studenten 1817 bis zur Revolution im März 1848 dauerte. Jedes Land der Welt würde die 200. Wiederkehr der erstmaligen Proklamation demokratischer Grundrechte durch seine studentische Jugend, wie auf der Wartburg 1817 geschehen, als herausragendes Datum seiner Nationalgeschichte feiern – nur das geschichtsvergessene Deutschland unserer Tage nicht.

In diese revolutionsschwangere Zeit fiel auch der Aufstand der Polen 1830 gegen das zaristische Russland, zu dem Polen damals gehörte, und der vom Zaren blutig niedergeschlagen wurde. Warum steht eigentlich nichts in unseren Schulbüchern darüber, dass die damaligen polnischen Aufständischen in großer Zahl nach Süddeutschland, vorzüglich in die Pfalz, flüchteten und dort mit der damals schon üblichen deutschen Willkommenskultur begeistert empfangen wurden. Die Polen wurden sogar eingeladen, am Hambacher Fest von 1832 teilzunehmen, wo auf den Zinnen des Schlosses einträchtig nebeneinander die schwarz-rot-goldenen deutschen und die weiß-roten polnischen Flaggen wehten.

Das Solidaritätsempfinden mit den polnischen Flüchtlingen hatte ganz Deutschland erfasst und Richard Wagner veranlasst, eine sie preisende Sinfonie zu komponieren. Auch Fritz Reuter hatte, als er u.a. wegen seiner Teilnahme am Hambacher Fest in Berlin verhaftet worden war, bei seiner Vernehmung vor Gericht seine Beweggründe im engen Bezug zu seiner Polenbegeisterung zu Protokoll gegeben. Der in der Pfalz als liberaler Publizist wirkende Johann Georg August Wirth brachte die übernational und europaweit ausgerichteten Proklamationen des Hambacher Festes auf den Punkt, indem er in seiner Rede ausrief: „Das Volk gönnt das, was es selbst mit seinem Herzblut zu erringen trachtet, und was ihm das Theuerste ist, die Freiheit, Aufklärung, Nationalität und Volkshoheit auch dem Brudervolke: das deutsche Volk gönnt daher diese hohen unschätzbaren Güter auch seinen Brüdern in Polen, Ungarn, Italien und Spanien.“ Die Polenbegeisterung schlug sich sogar in Liedern und Gedichten zu Ehren der polnischen Flüchtlinge nieder: „Polen ist noch nicht verloren! Bald wird’s wieder neu geboren, nicht zum Untergang erkoren kann das edle Polen seyn!“.

Als ich im Rahmen der von Helmut Schmidt nach der Wende gegründeten Deutschen Nationalstiftung dem Vertreter Polens in den Stiftungsgremien die Idee nahezubringen versuchte, die im Jahr 2007 anstehende 175. Wiederkehr des Hambacher Festes von 1832 für eine gemeinsame deutsch-polnische Gedenkfeier zu nutzen, stieß ich auf Unverständnis und Ablehnung. Eine öffentliche Veranstaltung, in der Deutschland als historischer Sympathisant polnischer Flüchtlinge im 19. Jahrhundert hätte gezeigt werden müssen, passte nicht in die Rollenverteilung, in der Polen unverändert durch die Zeiten als Opfer benachbarter imperialer Mächte erschien und bei der nun Deutschland aus der ihm seitens der Polen zugedachten Rolle des ewig schuldbeladenen Tätervolkes hätte heraustreten müssen. Die Ablehnung, ein die gemeinsame Freiheitsliebe der Völker symbolisierendes historisches Datum aus dem 19. Jahrhundert für eine Versöhnungsgeste im beginnenden 21. Jahrhundert zu nutzen, dürfte nur mit Blick auf die rund 150 Jahre währende polnische „Underdog“-Situation zu erklären sein. Dabei waren das Erdulden des staatenlosen Interregnums im 19. Jahrhundert und das Kriegsleid im 20. Jahrhundert das eine, die Sehnsucht nach Überwindung dieser als tiefe nationale Schmach empfundenen Zustände das andere.

Eine starke, die Polen gerade in der Zeit ihrer Teilungen verbindende Einheitsidee war der Panslawismus. Er nahm derart aggressive Formen an, dass schon auf dem ersten großen Panslawisten-Kongress 1848 in Prag die Forderungen nach einem künftigen Polen erhoben wurden, dessen Westgrenze entlang der später tatsächlich erreichten Oder-Neisse-Linie verlaufen sollte. Das war selbst einem Internationalisten und Menschenfreund wie Karl Marx zu harter Tobak, so dass er 1860 in einer Polemik dagegen hielt: „Wir Deutsche verlieren bei dieser (polnischen, Anm.) Operation weiter nichts als Ost- und Westpreußen, Pommern, Schlesien, Teile von Brandenburg und Sachsen, ganz Böhmen und Mähren und das übrige Österreich – und damit unsere nationale Existenz in den Kauf!“

So verständlich der aggressive chauvinistische Grundzug im Verhalten der Polen gegenüber ihren Nachbarn im Westen, im Osten und im Süden in den Zeiten der Teilungen sowie im Vorfeld und Gefolge des Zweiten Weltkriegs gewesen sein mag – er passt nicht mehr in unsere Zeit, in der die Europäer mit der Bildung der Europäischen Union einen dicken Schlussstrich unter wie auch immer begründete nationale Eigensüchteleien gezogen haben. Dass die Polen, zumindest die Generation, die zur Zeit in der Politik das Sagen hat, dennoch darauf beharren, ihren überzogenen nationalistischen und antieuropäischen Einstellungen zu folgen, hat etwas mit der schon angesprochenen Völkerpsychologie zu tun. Die Polen haben ihre Opferrolle im späten 18. und durchgehenden 19. Jahrhundert sowie im Zweiten Weltkrieg statt sie nur passiv zu erdulden in eine aggressiv-widerständige Gegenwehr überführt und sind dabei in ihren geistigen Vorstellungen und sobald möglich auch in ihren Taten selbst zu gewaltbereiten Akteuren geworden, ohne sich das bis heute eingestanden zu haben.

Im Unterschied zu den Deutschen, die eilfertig und devot, nur allzu gern bereit sind, sich zu ihren Untaten in ihrer Geschichte zu bekennen und das Büßerhemd, wo immer es opportun erscheint, überzustreifen, legen die Polen ein genau entgegengesetztes Verhalten an den Tag. Der aus ihrer Leidensgeschichte erwachsene Opferstolz verträgt sich nicht mit einem auch nur kleinsten Zugeständnis, in ihrem politischen, diplomatischen oder militärischen Handeln jemals gefehlt zu haben.

Schon im 19. Jahrhundert gab es eine polnische historische Schule, die Ansprüche auf deutsches Territorium formulierte, die weit über das alte Königreich Polen hinausreichten. So wurde ernsthaft die Ausweitung Polens bis zur Elbe gefordert; die deutsche Hauptstadt sollte von Berlin nach Frankfurt/Main verlagert werden. Kolportiert wurde das Wort eines polnischen Historikers der damaligen Zeit: „Ich wollte, dass Frankreich bis zur Elbe reicht und Polen direkt an Frankreich grenzt.“ Selbst nachdem Polen nach dem Ersten Weltkrieg als selbständiger Staat wieder erstanden war und ihm nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages deutsche Gebiete wie Posen, Westpreußen und das Memelgebiet zugeschlagen worden waren (Danzig wurde aus dem Reichsgebiet als „Freie Stadt“ herausgelöst), gab es keine Ruhe. Der ehemalige FAZ-Korrespondent und spätere Intendant des Deutschlandfunks Dettmar Cramer berichtet in seinen Lebenserinnerungen von einer ihn in Erstaunen versetzenden Entdeckung, als er im Herbst 1939 in Begleitung seines Vaters, der als Verwaltungsbeamter in der Region tätig war, in der damaligen Provinz Danzig-Westpreußen in einem verlassenen Gutshaus der Domäne Gora eine dort aufgehängte polnische Schullandkarte fand, auf der die deutsch-polnische Grenze entlang der Oder-Neisse-Linie verlief und Stettin bereits seinen heutigen polnischen Namen hatte.

Tatsächlich ist Polen in der Zwischenkriegszeit 1919 bis 1939, damals eine Militärdiktatur unter Pilsudski, die aggressivste Macht in Europa gewesen, mit Kriegen gegen seine Nachbarn Russland im Osten und die Tschechoslowakei im Süden sowie mit Grenzverletzungen gegen Deutschland und Vertreibungen deutscher Minderheiten im Westen. Von den Russen sind die Polen für diese Aggression in Gestalt des Landraubs 1920/21 mit der Rückeroberung dieser Gebiete 1939 durch Stalin und der Ermordung von 30.000 Polen bei Katyn bestraft worden, wodurch auf beiden Seiten bis heute Rechnungen offen sind. Dazu hat der ehemalige russische Botschafter in Deutschland Valentin Falin in seinen „Politischen Erinnerungen“ erhellende Ausführungen gemacht.

Auch die Deutschen beantworteten das feindselige Verhalten Polens, wie die Ablehnung eines Korridors zwischen dem Reich und dem durch vorherige Gebietsabtretungen isolierten Ostpreußen, aber auch die polnische Mobilmachung bereits im Frühjahr 1939 und die zunehmenden Ausschreitungen gegen Deutsche, die lange vor Kriegsausbruch zu einer Fluchtwelle von etwa 70.000 Deutschen aus den Grenzgebieten nach Deutschland führten, auf militärischem Wege. Im Unterschied zu den Russen aber haben die Deutschen für den im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes gemeinsam im September 1939 gegen Polen begonnenen Krieg teuer bezahlen müssen, ganz so, wie es der schlaue Fuchs Stalin anschließend vor Kadetten einer Militärakademie ausführte: Wir haben unsere Schäfchen im Trockenen, die Deutschen aber haben jetzt die Engländer und Franzosen als Schutzmächte der Polen am Hals und aus dieser Falle werden sie nicht mehr herauskommen.

Wie recht Stalin behalten sollte, wurde im Potsdamer Abkommen vom Frühjahr 1945 offenbar, wo die Siegermächte des Krieges die Abtretung von einem Viertel des deutschen Reichsgebietes beschlossen. Pommern, das als eines der ältesten europäischen Herzogtümer seit 800 Jahren zum Reich gehört und das allein die Ausdehnung der Niederlande hatte, die restlichen Teile Westpreußens, das südliche Ostpreußen und ganz Schlesien wurden polnischer Verwaltung unterstellt, das Sudetenland fiel an die damalige Tschechoslowakei.

Sicher haben die Deutschen für den zusammen mit Russland begonnenen Zweiten Weltkrieg und für ihre zum Teil grausame Kriegführung, insbesondere für den von Deutschland zu verantwortenden Holocaust, schwere Schuld auf sich geladen. Aber die Deutschen haben sich in den sieben Jahrzehnten seit Ende des Krieges wie keine andere Nation mit Wiedergutmachungsleistungen bemüht, sich dieser Schuld zu stellen. Ohne auf die Russen in diesem Zusammenhang einzugehen, weil das nicht zum Thema gehört, wirft das diesbezügliche Verhalten der Polen Fragen auf, die in das Erklärungsmuster für ihren bis heute ungebrochenen und übersteigerten Nationalismus und Chauvinismus sowie ihr antieuropäisches Agieren hineinspielen. Es muss nicht besonders betont werden, dass durch dieses eigensüchtige und unsolidarische Verhalten das so dringend notwendige Gemeinschaftshandeln der EU in grundlegenden politischen Zukunftsfragen immer wieder unterlaufen wird.

Teil des Erklärungsmusters für dieses Verhalten ist, dass Polen zwar seine Opferrolle immer sehr prononciert herauszustellen geneigt ist, dass es aber unterlässt, über seinen Anteil an den Katastrophen des letzten Jahrhunderts Rechenschaft abzulegen, geschweige denn dafür Verantwortung zu übernehmen. Hierbei soll die im Blickpunkt internationaler Auseinandersetzungen stehende Verstrickung Polens in den Holocaust außen vor bleiben, weil Aufklärung über dieses bis heute im Dunstkreis der Zeitgeschichte verbleibende Kapitel in erster Linie von polnischen Historikern zu leisten ist. Von deutscher Seite anzusprechen sind in diesem Zusammenhang demgegenüber die nach dem Zweiten Weltkrieg unter polnischer Verantwortung exekutierten größten ethnischen Säuberungen der modernen Geschichte. 14,5 Millionen Bewohner der ehemaligen deutschen Ostprovinzen und deutscher Siedlungsgebiete in Ost- und Mitteleuropa wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Diese Größenordnung entspricht in etwa der Gesamtbevölkerung Skandinaviens zur damalige Zeit. Von dieser Zahl wurden 12,5 Millionen Deutsche von den Polen unter zum Teil grausamen Begleitumständen aus Pommern, West- und Ostpreußen sowie aus Schlesien vertrieben, von denen rund 2,5 Millionen unterwegs ums Leben kamen. Bis heute blockieren die Vertreter Polens in der auf Initiative der Bundesregierung gegründeten Stiftung die Errichtung und Ausstattung einer Gedenkstätte, die speziell an das Leid dieser Menschen erinnern und als Mahnmal gegen Vertreibungen für alle Zeiten dienen soll.

Das Negieren einer schuldhaften Verstrickung gilt ebenfalls für den von Pilsudski 1920 vom Zaun gebrochenen Krieg gegen das revolutionsgeschwächte Russland, in dessen Verlauf die Westukraine, Westweißrussland und Teile Litauens erobert, das ganze „Ostpolen“ genannt und damit einer der Verursachungsherde des Zweiten Weltkrieges geschaffen wurde. Denn zur Rückabwicklung dieses polnischen Landraubs und gleichzeitig zur Brechung des polnischen Widerstandes gegen den Landkorridor nach Ostpreußen schlossen sich der russische und der deutsche Führer 1939 zum bereits genannten Hitler-Stalin-Pakt zusammen und marschierten beide, der eine vom Westen, der andere vom Osten, im September 1939 in Polen ein. Anschließend wurde sogar eine gemeinsame russisch-deutsche Siegesparade in Brest-Litowsk abgehalten! Stalin holte sich damals tatsächlich nur die als „Ostpolen“ kaschierten Gebiete zurück, die den Russen 1920/21 geraubt worden waren.

Den angeblichen Verlust dieser propagandistisch als „Ostpolen“ bezeichneten Gebiete, den die Polen als Begründung für die Übernahme der deutschen Ostprovinzen Pommern, West- und Ostpreußen und Schlesien ins Feld führten und den ganzen Vorgang bis heute als „Westverschiebung Polens“ verstehen, hat es tatsächlich gar nicht gegeben. Es ist eine Legende, aus chauvinistischem Übereifer geboren, über die man heute zur Tagesordnung übergehen könnte, wenn sie nicht aktuell mit handfesten Reparationsforderungen der Polen gegenüber Deutschland in Zusammenhang gebracht werden würde.

So absurd es erscheinen mag, dass die Polen nach Übernahme eines Viertels des deutschen Reichsgebiets und der Vertreibung von 12,5 Millionen Deutschen aus ihren ehemals ostdeutschen Heimatprovinzen über 70 Jahre nach Kriegsende zusätzlich noch Reparationen fordern, so ernsthaft muss sich die Bundesregierung mit dieser Forderung auseinandersetzen, denn sie ist mehrfach von offizieller polnischer Regierungsseite erhoben worden. Nachdem der Vorsitzende der nationalkonservativen Regierungspartei PIS, Jaroslaw Kaczynski, im Sommer 2017 öffentlich bekundet hatte, dass Polen seine immer wieder erhobenen Forderungen nach Kriegsreparationen von Deutschland erneuern müsse, wurde beim Wissenschaftlichen Dienst des polnischen Parlaments ein Gutachten in Auftrag gegeben, das zu dem Ergebnis kam, dass derartige Forderungen begründet seien. Die Argumentationslinie des Gutachtens konnte von denjenigen, die an diesem Thema interessiert sind, bereits am 10. Oktober 2017 in der FAZ nachgelesen werden. Im einem Aufsatz der Direktorin des Politikwissenschaftlichen Instituts Zachodni in Posen Justyna Schulz heißt es, dass es unzulässig sei, den Gebietsverlust und die Vertreibung der Deutschen gegen die Reparationsforderungen der Polen aufrechnen zu wollen. Das würde einer Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges gleichkommen. Die polnischen Reparationsforderungen bestünden unabhängig vom Erwerb der deutschen Ostprovinzen, die schließlich nur eine Kompensation für den Verlust der „ostpolnischen Gebiete“ an Russland darstellten. Der amtierende deutsche Außenminister Sigmar Gabriel hat gegenüber seinem polnischen Amtskollegen Jacek Czaputowicz bei dessen Antrittsbesuch Mitte Januar in Berlin jedwede Reparationsforderung zurückgewiesen aber zugestimmt, eine gemeinsame Expertenkommission mit dem Auftrag einzusetzen, diese Frage „wissenschaftlich zu erforschen“.

Bemerkenswert an diesem Vorgang erscheinen drei Dinge:

• dass nach Jahrzehnten deutsch-polnischer Zusammenarbeit und Aussöhnung eine solche, die historischen Tatsachen verfälschende Forderung überhaupt erhoben wird

• dass sie der traditionell chauvinistischen polnischen Linie folgend keinerlei europäischen Geist atmet und kaum Bereitschaft erkennen lässt, die notwendige Zusammenarbeit bei wichtigen Gemeinschaftsfragen in der EU voranzubringen

• schließlich, dass diese Forderung in gewissen politischen Kreisen hierzulande auf verständnisvolle Resonanz stoßen könnte und damit angesichts der allgemeinen labilen innenpolitischen Gesamtlage eine weitere Baustelle aufgemacht werden würde.

Der polnischen Furcht vor einem deutschen Revisionismus, der aus der Argumentation der Posener Autorin durchschimmert, ist zu Teilen sicher auf ein verdrängtes schlechtes Gewissen bezüglich nicht eingestandener und ungesühnter eigener Untaten zurückzuführen. Wenn es nur um diese Furcht vor dem Aufkommen deutscher Revisionsgelüste ginge, können darüber ein- für allemal die Bücher geschlossen werden. Spätestens seit der Wiedervereinigung gilt im Einvernehmen aller Parteien des Deutschen Bundestages, dass an der Abtretung der deutschen Ostgebiete an Polen nicht mehr zu rütteln ist. Dieses „pacta sunt servanda“ hatte sich schon seit den Ostverträgen Anfang der 70er Jahre angekündigt und auch die Vertriebenenverbände, allen voran die Pommern, hatten sich dem, wenn anfangs auch zögerlich, letztlich angeschlossen.

Zum Beleg dessen zitiere ich aus einem Beitrag in der Pommerschen Zeitung von vor fast 30 Jahren, den ich damals als Stellvertretender Sprecher der Pommerschen Landsmannschaft und Herausgeber der PZ am 21. Oktober 1989, drei Wochen vor dem unerwarteten Fall der Berliner Mauer, unter der Überschrift „Pommern und Polen bilden Schicksalsgemeinschaft“ veröffentlicht hatte:

„Kein Pole, der heute in unserer pommerschen Heimat lebt, die auch die seine geworden ist, muss befürchten, dass die Pommern ihm sein Lebensrecht in unserer alten Heimat streitig machen. Dieses ist keine vordergründige These, sondern eine durch viele menschliche Begegnungen im Laufe von Jahrzehnten untermauerte politische Garantieerklärung. Gleichzeitig aber gilt, dass die Pommern nie bereit sein werden, die geschichtliche Wahrheit zu leugnen: dass ihr Land, das seit über 800 Jahren einen Bestandteil der europäischen Geschichte bildet, bis auf den heutigen Tag nicht aufgehört hat zu existieren. Die Ostsee-Provinz Pommern muss in ihrer eigenständigen Kultur und Geschichte erhalten bleiben. Dazu gehört die Schaffung rechtlicher und kultureller Voraussetzungen, die es den Pommern erlauben und ermöglichen, wenn sie dies eines Tages wollen, wieder dort zu leben, ohne dass das Lebensrecht der heute dort lebenden Polen dadurch beeinträchtigt würde. Hieraus wird klar: Es geht nicht um territoriale Streitigkeiten in der Tradition des 19. Jahrhunderts, und es geht auch nicht um Grenzstreitigkeiten, sondern es geht ganz einfach um die Verwirklichung der Menschenrechte im Rahmen einer europäischen Friedensordnung, die nationale Eifersüchteleien überwunden hat.“

Trotz aller zur Zeit im deutsch-polnischen und im polnisch-europäischen Verhältnis bestehenden Probleme, die hier beschrieben wurden, ist Zuversicht angezeigt, dass sie nicht von Dauer sein werden. Zu sehr hat in den Köpfen der jüngeren polnischen Generation, die nach der Wende aufgewachsen ist, der europäische Geist Aufnahme gefunden.

Im Rahmen der bereits erwähnten von Helmut Schmidt zur Förderung der „inneren“ Wiedervereinigung in Deutschland und in Europa gegründeten Nationalstiftung hatte ich in den Jahren nach 2000 Gelegenheit, ein Projekt mit auf den Weg zu bringen, das Schüler aus Warschau, Berlin und Paris zu gemeinsamer Projektarbeit zusammenführt. Jeweils der 11. Jahrgang eines Gymnasiums in Warschau und in Paris sowie von zwei Gymnasien im ehemaligen Ost- und Westberlin treffen sich seither im Rahmen der „Schulbrücke Weimar“ jedes Jahr für eine Seminarwoche in der thüringischen Stadt Goethes und Schillers mit Vor- und Nachbereitungen zu Hause, um gemeinsam ein vorgegebenes Thema zu bearbeiten. Ich bin sicher, dass die bei diesen Begegnungen unter den jungen Polen, Franzosen und Deutschen geknüpften Bande verhindern werden, dass ihr friedliches Zusammenleben in ihrem gemeinsamen Europa durch unsinnige Reparationsforderungen oder andere nationalistische Provokationen aufs Spiel gesetzt wird.

 
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