MüMis Bloghouse

Um welches Europa soll es gehen?

Der Anschlag vor dem britischen Parlament in London ist über den schrecklichen Schicksalsschlag für die Opfer und ihre Angehörigen hinaus ein Akt von immenser symbolischer Bedeutung. Nach Paris, Brüssel und Berlin ist mit London eine weitere europäische Metropole zur Zielscheibe des islamistischen Terrors geworden. Und das, obgleich die Innere Sicherheit und ihre Gewährleistung in Großbritannien seit den Erfahrungen mit dem IRA-Konflikt einen markant höheren Stellenwert hatte und hat als in den Ländern Kontinentaleuropas. Das Londoner Attentat vom 22. März wirft insofern auch ein Schlaglicht zurück auf die Brexit-Entscheidung. Nachdem eine deutliche Mehrheit der Briten schon seit jeher unter dem Eindruck stand, dass die Massenzuwanderung ehemaliger Commonwealth-Bürger das Land überfordert hatte, wollte man sich die zusätzlichen freizügigen Immigrationsregeln der EU nicht länger vorschreiben lassen. 

Darauf hat Hans-Werner Sinn dieser Tage in einem Beitrag hingewiesen, in dem er die Bedeutung des Brexit für Deutschland und Europa an Hand der außenwirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Folgen dieser Entscheidung analysiert. Da es sich bei Großbritannien um die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU handelt und seine Wirtschaftskraft der Summe der zwanzig kleinsten EU-Länder entspricht, hat der Brexit dasselbe ökonomische Gewicht, als würden zwanzig von achtundzwanzig Ländern gleichzeitig austreten. Sicherheitspolitisch ist der Brexit vor allem für Deutschland ein Desaster. Denn Großbritannien ist nicht nur Deutschlands drittgrößter Exportmarkt. Es ist eines von zwei EU-Ländern, die über Nuklearwaffen verfügen. Das verbleibende Frankreich gewinnt durch den Austritt auf dramatische Weise an politischer Macht. Das bisher bestehende „Gleichgewicht der Kräfte“ in der EU ist zerstört, weil Deutschland trotz seiner wirtschaftlichen Stärke in ein einseitiges politisches Abhängigkeitsverhältnis gerät.

Es kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden, dass es die zunehmend stärker als bedrängend empfundene Fremdbestimmung der britischen Politik durch Brüssel (und dahinter verborgen durch Berlin) war, die die Ausstiegsentscheidung maßgeblich mit bestimmt hat. Dabei war der Empörung über die „Offene Grenzen“-Politik von Bundeskanzlerin Merkel in London der Versuch von Premierminister Cameron vorausgegangen, durch eine verzögerte Integration in die Sozialsysteme die Magnetwirkung des britischen Sozialstaates zu begrenzen. Dies war von Brüssel kaltlächelnd abgeschmettert worden. Da etliche der Konfliktfelder zwischen Großbritannien und der EU bei realistischer Betrachtung auch zu den kritischen Problemzonen im Verhältnis der EU zu anderen Mitgliedsländern gehören, läge der entscheidende Ansatz zur Rettung des in schweres Wetter geratenen Europaprojekts in einem strategischen Kraftakt, der weit über das von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vorgelegte Weißbuch hinausgeht.

Wolfgang Schäuble ist darin zuzustimmen, dass die europäische Einigung die wohl beste Idee war, die die Europäer im 20. Jahrhundert hatten. Aber er räumt auch ein, dass viele Europäer geneigt sind, in der Brexit-Entscheidung eher das Menetekel eines beginnenden Zerfalls als nur das Zeichen eines beklagenswerten Sonderfalls zu sehen. Denn es ist nun einmal eine Tatsache, dass die Briten nicht allein stehen, wenn Zweifel an der Problemlösungsfähigkeit der Europäer geäußert werden. Insofern hieße der erste Schritt zur Kehrtwende, im Brexit statt eines Ärgernisses eine Augen öffnende Chance für eine Generalremedur des Europaprojekts zu sehen. Nachdem die Briten in dieser konstruktiven Sichtweise viel berechtigte Kritik an den Organen der EU und an ihren Ordnungsregeln vorgebracht haben, sollte diese Kritik ernster genommen werden, als dies zur Zeit geschieht, und bei einer grundlegenden Reform der EU entsprechend berücksichtigt werden.

Dazu gehört nach Hans-Werner Sinn in einem zentralen Feld der akuten europäischen Betroffenheit auch eine Neuregelung der Inklusionsrechte für Migranten, um den fatalen europäischen Wohlfahrtsmagneten abzuschalten, der Gutes bewirken sollte, aber viel Unheil über unseren Kontinent gebracht hat. Eine darauf gerichtete Verfassungsreform, die der absurden weil interessengeleiteten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Einhalt gebietet, die europäischen Bürger mit enteignungsgleichen Eingriffen in ihre privaten Besitzstände zu kujonieren, sollte ganz oben auf der Liste der Reformprojekte stehen. Und natürlich gehört eine funktionale Neugliederung der europäischen Institutionen dazu, die einem der Grundprinzipien des europäischen Einigungswerks, der Subsidiarität, endlich den ihm gebührenden Rang einräumt. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog und Andere mit ihm haben die in der EU Verantwortlichen immer wieder beschworen, dieses wichtige Element der Gründungsidee Europas nicht länger durch Nichtbeachtung zu strafen. Auch in dieser Hinsicht sollte der Brexit auf den Brüsseler Moloch wie ein Weckruf aus dem Tiefschlaf wirken. Schließlich scheint jeder Rettungsversuch des Europaprojekts, der nicht an einer Neugestaltung der europäischen Währungs- und Geldpolitik in Verbindung mit einer Neuregelung des Eurosystems ansetzt, zum Scheitern verurteilt.

Angesichts dieser gewaltigen Herausforderungen, denen sich Europa bereits im Innern ausgesetzt sieht und wobei die im internationalen Bereich zusätzlich dräuenden Schlechtwetterlagen noch nicht einmal berücksichtigt sind, ist es verstörend, mit welcher Mischung aus Apathie und Kaltschnäuzigkeit sich verantwortliche Politiker in Deutschland und Europa davor herumdrücken, einen belastbaren Weg aus der Krise aufzuzeigen. In einem Gedenkartikel anlässlich der 60. Wiederkehr der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 1957 würdigt Wolfgang Schäuble die historische Großtat der zwölf Jahre nach Kriegsende mutig und zukunftsgewandt handelnden Staatsmänner Europas. Diesem Mut und dieser Zukunftsgewandtheit stellt Schäuble aus heutiger Sicht einen langen Wunschkatalog der Europäer an sich selbst und ihre Anführer gegenüber – und lässt bezeichnender- und ehrlicherweise offen, wie er zu bewältigen wäre.

Die Europäer müssten

  • mehr Bereitschaft zeigen, die EU-Institutionen als eigene demokratisch legitimierte Repräsentanten zu akzeptieren

  • sich mehr für ihre gemeinsame Sicherheit engagieren

  • statt irgendwelcher Schlepperbanden selbst entscheiden können, wer zu uns kommt

  • eine Mobilitätsoffensive für Ausbildung und gegen Jugendarbeitslosigkeit ingangsetzen

  • strenger darauf achten, dass die finanziellen Leistungen des Nordens für den Süden auch wirklich dazu benutzt werden, die überfälligen Strukturreformen zur Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit durchzuführen

  • sich an das vereinbarte Prinzip halten, dass kein Staat für die Schulden anderer Staaten haften darf

  • alles tun, um die Europäische Währungsunion, den integriertesten Teil Europas, funktionsfähig zu halten, weil wir andernfalls in große Schwierigkeiten kommen, das gesamteuropäische Gebilde zu verteidigen

  • sich schließlich offen mit dem Hauptvorwurf auseinandersetzen, dass die gegenwärtige Handlungsfähigkeit der Union und ihrer Institutionen in weiten Bereichen nur im Wege von Rechts- und Regelbrüchen aufrecht erhalten werden kann.

Dass Wolfgang Schäuble nicht die Kraft findet, auch nur andeutungsweise Lösungsansätze für diese geballte Ladung an Problemen aufzuzeigen, mag man ihm durchgehen lassen. Er hat sich mit seinem politischen Lebenswerk für Deutschland und Europa verdient gemacht. Aber dass sich auf Europas weiter Flur sonst niemand zeigt, der mit Glaubwürdigkeit und Umsetzungswillen den Weg aus der Misere weisen würde, ist das eigentlich Beklemmende der Lage Europas unserer Tage.

Wenigstens auf eine Linie sollten sich die Europäer angesichts ihrer „Großen Verunsicherung“ verständigen können: dass sich im Rückblick auf die Größe ihrer gemeinsamen Geschichte ein Versinken in Apathie von selbst verbietet; dass eine widerstandslose Öffnung gegenüber einer asiatischen Staatsreligion der schlechteste aller Lösungsansätze wäre; und dass ohne ein Mindestmaß an Zusammengehörigkeitsgefühl der Europäer untereinander, das auf ihren von der Antike bis heute wirkungsmächtigen kulturellen Wurzeln gründet, kein modernes Staatswesen und keine noch so wohlhabende Staatenunion auf Dauer am Leben gehalten werden kann.

 
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