MüMis Bloghouse

Urlaub 2015 - das schlechte Gewissen steht Pate

Der Sommer ist auch nach Deutschland zurückgekehrt. In den Touristenzentren des Nordens und Südens herrscht Hochbetrieb. Ein jeder ist bestrebt, emotionalen Ausgleich für die kräftezehrenden Anspannungen des Alltags zu finden. Es hat Zeiten gegeben, in denen das Ausspannen leichter fiel. Dieser Tage holen uns selbst an den Stränden und in den Bergen die Bilder ein, die uns seit Monaten aus Zeitungen, TV und Internet mit ihren Schreckensbotschaften bedrängen: IS, Asylanten, BAMF und Co.

Da bleibt das Aufflackern eines schlechten Gewissens nicht aus, auch wenn die kalte Ratio dagegen halten mag. Dass die Deutschen doch diesen herbeigefälschten Krieg nicht mitgemacht hätten, der den IS und mit ihm die Flüchtlingsflut zur Folge hatte. Und natürlich die Frage, wo denn nun die mächtige "Allianz der Willigen" bleibt, um bei der Bewältigung des von ihr verursachten Flüchtlingselends zu helfen. Aber was ein gutes schlechtes Gewissen ist, lässt sich durch Argumente nicht ins Bockshorn jagen. Schließlich setzen zur gleichen Zeit Menschen im Mittelmeer ihr Leben aufs Spiel, zu der man sich an dessen Gestaden Urlaubsfreuden hingibt. Auch wird die Stimmung nicht dadurch besser, dass man an die zu Hause gebliebenen Nachbarn denkt, die oft unter Urlaubsverzicht in freiwilligen Aktionsgruppen helfen, den Gestrandeten in der heimatlichen Kommune das Eingewöhnen in die neuen Lebensumstände zu erleichtern.

Ähnliche Gedanken mögen sich in den Köpfen jener vier Euro-Promis regen, die in der hochkommunikativen Karikatur von Ollis Marktplatz im Wirtschaftsteil der FAZ alles andere als frohen Sinnes und entspannt ihren Urlaubsfreuden frönen. Nur EU-Kommissionspräsident Juncker ist beim Strand-Volleyball statt auf das vom Meer nahende Unheil in Form eines mit Flüchtlingen überfrachteten Schlauchboots auf die Abwehr des Balles fixiert, der sich noch in den Händen von Frankreichs Präsident Hollande befindet. Der selbst und seine beiden im Meeressaum badenden Kollegen Kanzlerin Merkel und Briten-Premier Cameron blicken stattdessen gebannt wie irritiert auf das, was dort als furchterregendes Spektakel auf sie zusteuert.

Der Kanzlerin mit ihrem Gespür für zeitgeistig gebotenes Tun oder Unterlassen sieht man an, wie sie bemüht ist, die schaumummundeten Vorwürfe der Fremdenfeindlichkeit aus tiefroten und dunkelgrünen Kreisen mit dem Postulat auf einen Nenner zu bringen, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. Ist es als Land der Mitte nicht tatsächlich ein Musterbeispiel für eine Hochkultur, das im Laufe einer tausendjährigen Entwicklung ohne stete Zuwanderung aus Nord, West, Ost und Süd gar nicht denkbar gewesen wäre und ohne, dass es dazu eines Einwanderungsgesetzes bedurft hätte? Und hat dieses Land mit seiner inzwischen erreichten demografischen Saturiertheit der weitaus größten Bevölkerungsdichte unter den Flächenstaaten Europas nicht unter Beweis gestellt, dass es die beiden größten Bevölkerungsbewegungen der jüngeren Geschichte mit seiner bestehenden Rechtsordnung zu bewältigen in der Lage war?

Deutschland musste nach dem letzten Weltkrieg ein Viertel seines Territoriums abtreten und die im Zuge ethnischer Säuberungen aus diesen Provinzen im Osten vertriebenen 14,5 Millionen Landsleute (von denen zwei Millionen während der Vertreibung ums Leben kamen) aufnehmen, was etwa der damaligen Gesamtbevölkerung Skandinaviens entsprach. Seit der politischen Wende in Europa ist mit 16 Millionen eine noch größere Anzahl, diesmal von Ausländern aus der Türkei, aus Ost-, Süd- und Westeuropa, aber auch aus dem Nahen Osten, aus Russland und aus asiatischen Ländern nach Deutschland zugewandert. Das Verdikt der Ausländerfeindlichkeit, wohlfeil im polit-medialen Meinungskampf von denen herumgereicht, die von seiner Bekämpfung mit staatlichen Subsidien profitieren, scheint jedenfalls bei den Betroffenen ohne abschreckende Wirkung geblieben zu sein: Nach neuestem Stand haben 20 Prozent der Einwohner Deutschlands ausländische Wurzeln. Auf diese ansehnliche Integrationsleistung ein nachträgliches Einwanderungsgesetz mit der Proklamation draufsatteln zu wollen, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, wäre vergleichbar mit der ähnlich abstrusen Forderung, dass Deutschland sich endlich entschließen möge, Fußballland zu werden.

Als klassische Einwanderungsländer gelten nach allgemeinem Sprachgebrauch Großterritorien wie die USA, Kanada oder Australien, die vom Raum- und Ressourcenangebot her über die kapazitiven Voraussetzungen für Massenzuwanderung verfügen, zumal die ersten Siedlungswellen der zumeist europäischen Einwanderer in diese Länder mit weitgehender Eliminierung der Urbevölkerung einhergegangen waren. Dieses Schicksal sollten uns jene Politiker, die unser Land wieder einmal in eine Großdeutschland-Kategorie zu hieven beabsichtigen, lieber ersparen, wenn sie wiedergewählt werden wollen. Eine ebensolche Schildbürgerei ist es, wenn sich dieselben Politiker mit Hilfe eines Einwanderungsgesetzes Facharbeiter aus den zuströmenden meist unqualifizierten Boatpeople zu rekrutieren erhoffen, die zuvor mit einer genau entgegengesetzten Rentenreform Hunderttausende hochqualifizierter einheimischer Facharbeiter in den vorzeitigen Ruhestand geschickt haben.

Wenn es angesichts dieser unentwegten Zumutungen und Nötigungen, die dem braven Bürger aus Richtung der tonangebenden Kader der Politischen Korrektheit auf die Nerven gehen, so etwas wie eine gemarterte Volksseele gibt, dann konnte man ihr Aufbegehren dieser Tage im nördlichsten deutschen Urlaubsdomizil auf der Insel Sylt wahrnehmen. In einer der ältesten Kirchen im Norden Europas, in St. Severin zu Keitum, fand auch in diesem Jahr, zum 15. Mal, das Sommerkonzert der Deutschen Stiftung Musikleben statt. Junge Musiktalente aus aller Welt, die von der Stiftung betreut und unterstützt werden, bedanken sich hier mit brillanten Darbietungen bei ihren Förderern, zu denen traditionsgemäß auch Sylt-Urlauber Wolfgang Schäuble gehört. Wie in jedem Jahr bewegt er sich in seinem Rollstuhl Punkt 18 Uhr durch den Mittelgang des Kirchenschiffes auf den Chorraum zu, um dort mit seiner Frau und seiner Familie seinen Platz einzunehmen.

Diesmal entlädt sich die gespannte Atmosphäre vor Konzertbeginn durch einen Vorfall, wie es ihn in diesem an Jahren alten und an Ereignissen reichen Kirchengemäuer so noch nicht gegeben hat. Von den hinteren Bankreihen beginnend brandet Applaus auf, sobald man des im Urlaubsdress gekleideten Ministers ansichtig wird, und der Beifall steigert sich mit jeder Bankreihe, die er auf seinem Weg passiert. Jeder spürt, dass es nicht um ein höfliches Begrüßungsritual geht, was über die klatschenden Hände der Konzertbesucher, die aus allen deutschen Landen, aus allen Bevölkerungsschichten und allen Altersklassen stammen, Ausdruck sucht. Ist es jene alte Volksweisheit des Nordens, die als unsichtbare Regieanweisung bei dieser emotionalen Aufwallung Pate steht? Der eine fragt, was kommt danach, der andere fragt nur, ist es recht, und also unterscheidet sich der Freie von dem Knecht.

Gedankt wird hier einem, der ziemlich einsam als Freier den Knechten widerstanden und sich tapfer für die Res Publica geschlagen hat. Rühm hart, klaar Kimming, wie die alten Sylter sagten, tapferer Kämpfer mit klarem Durchblick. Und mit Rückgrat, was vor allem zählt, wenn es immer wieder gilt, schützend den Schild gegen die unselige Absahnerei, ob aus dem Südosten oder aus dem Westen des Balkan zu erheben, nicht zu vergessen gegen die Füllhorngießer im eigenen Land. Auch dies will mit dem dankenden Applaus gesagt sein: Wir wollen unseren Landsmann Schäuble in seinem Kampf bestärken, die Dinge nicht noch weiter aus dem Ruder laufen zu lassen. Schließlich steht einiges auf der Kippe, folgt man dem mahnenden Wort, das Herfried Münkler auf dieses Thema münzte: Die politische Kultur der Bundesrepublik ist eine der Schuldannahme. Das wird gefährdet, wenn andere daraus nach bald drei Generationen Kapital schlagen wollen. Das Sommerkonzert war im übrigen wie immer Spitze. Und auch sonst passte alles zusammen an diesem Urlaubsabend in St. Severin zu Keitum.

 
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