MüMis Bloghouse

Vorgegaukelte Westverschiebung Polens

Der Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, Prof. Claus Leggewie, hat in einem Beitrag in der FAZ an den Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 erinnert. Dazu habe ich in einem Leserbrief, erschienen am 27. August 2015, Stellung genommen:

Claus Leggewie sei Dank für die ausführliche sowie breiter und tiefer als in deutscher Geschichtsbetrachtung üblich angelegte Darstellung des Hitler-Stalin-Pakts. Allerdings bleibt er dem geschichtspolitischen Narrativ der Siegermächte insoweit verhaftet, als er ausführt, dass der Pakt "dem Deutschen Reich die sowjetische Neutralität beim Überfall auf Polen und die westlichen Nachbarn" verschafft habe. Dabei konstituiert das Abkommen doch expressis verbis ein Aktionsbündnis beider Mächte, dem zufolge sie tatsächlich nahezu gleichzeitig gemeinsam im September 1939 - die eine im Westen, die andere im Osten - in das damalige polnische Hoheitsgebiet eingefallen sind.

Auch hält Leggewie an einer doppelten geschichtspolitischen Camouflage fest, wenn er schreibt, dass der Hitler-Stalin-Pakt es der Sowjetunion gestattete, "sich im Ersten Weltkrieg verlorene Territorien des Zarenreichs in Ostpolen, Finnland, Estland und Lettland wieder anzueignen".

Der Begriff "Ostpolen" steht nicht, wie suggeriert wird, für den östlichen Teil des nach dem Ersten Weltkrieg wiedererstandenen polnischen Staates. Stattdessen handelt es sich beim sogenannten "Ostpolen" um Westweißrussland, die Westukraine sowie Teile Litauens, die keineswegs nach dem Ersten Weltkrieg an Polen fielen, sondern dem in den Nachwirren der Oktoberrevolution verstrickten und sicherheitspolitisch geschwächten Russland im polnisch-russischen Krieg von 1920/21 von Polen abgenommen wurden, was im Vertrag zu Riga 1921 besiegelt wurde.

Diese Präzisierung ist keinesfalls nur akademischer Natur, wirft sie doch ein historiographisches Schlaglicht auf die aktuelle Auseinandersetzung um die Ukraine und ihre aus russischer Perspektive grundlegend nationalpolitische Bedeutung. Unterstrichen wird dieser Aspekt auch dadurch, dass die auf Stalins Befehl erfolgte Ermordung von 30.000 Mitgliedern der polnischen militärischen und geistigen Elite in den Wäldern von Katyn als Strafaktion und "ewiger Denkzettel" für den polnischen Raub Westweißrusslands und der Westukraine galt.

Aus deutscher Sicht schafft die Klärung dieses Zusammenhangs vielleicht etwas mehr Verständnis für die Verbitterung der Opfer der ethnischen Säuberungen in Pommern, Ost- und Westpreußen sowie Schlesien, denen bis heute vorgegaukelt wird, die Abtretung ihrer Provinzen sei zur Kompensation des russischen Landraubs im Osten Polens unabdingbar geworden (Westverschiebung). Tatsächlich liegt der deutschen Gebietsabtretung (ein Viertel des ehemaligen deutschen Reichsgebiets) die aggressive Eroberungspolitik der damaligen polnischen Militärdiktatur unter Pilsudski gegenüber der Tschechoslowakei und Russland zugrunde, die Stalin im Zuge seines Paktes mit Hitler 1939 mit der Rücknahme des fälschlich so bezeichneten "Ostpolens" revidierte.

Da Hinweise dieser Art gern als rechtspopulistischer Revisionismus abgetan werden, darf ich als ehemaliger Pommernsprecher und zugleich im ehrenden Gedenken an meinen Vorgänger in diesem Amt, Philipp von Bismarck, an das Credo "Aussöhnung durch Wahrheit" erinnern, dem die Pommern seit den frühen 70er Jahren ihre politische Arbeit unterstellt hatten. Statt revisionistischen Illusionen anzuhängen, haben wir zu den ersten Verfechtern des Beitritts Polens zur EU gehört, zumal unsere ehemalige Heimatprovinz dadurch wieder Teil des gemeinsamen Europa wurde und wir zusammen mit den heutigen Bewohnern Pommerns Hand anlegen konnten, dort friedliche Wiederaufbauarbeit zu leisten.

Dieser zukunftsgewandten Einstellung folgend, wäre übrigens auch der aktuellen Flüchtlingsproblematik, der sich die Europäische Union eigentlich in solidarischer Gemeinschaft stellen sollte, beizukommen. Polen, aufgrund der territorialen Ausweitung nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der großen europäischen Flächenstaaten mit geringer Bevölkerungsdichte aufgestiegen, hätte mit marshallplanmäßiger EU-Finanzhilfe für den Auf- und Ausbau entsprechender Infrastrukturen (wozu Deutschland im Eigeninteresse kräftig beitragen sollte) beste Voraussetzungen, bevorzugtes Siedlungsgebiet für die auf Europa zuströmenden Flüchtlinge zu werden (anstatt wie zur Zeit nur so viele Asylbewerber wie die Stadt München aufzunehmen).

Claus Leggewie sei Dank, dass er mir mit seinem historischen Rückblick auf den 23. August 1939 das Tor zu diesem politischen Lösungsbeitrag für eines unserer großen Gegenwartsprobleme geöffnet hat.

 
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