Reform der Sozialsysteme

Zu ihrer Zeit im vorletzten Jahrhundert und bis in die Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Bismarckschen Sozialreformen ein Segen für die werktätige Bevölkerung. Dies gilt für die Rentenversicherung im Prinzip bis heute, auch wenn sie ihren Zweck inzwischen nur noch unvollkommen erfüllt und daher ergänzungsbedürftig ist.

Bei der gesetzlichen Krankenversicherung, deren Einführung der gesundheitsschädigenden harten Industriearbeit in der Frühzeit der Industrialisierung zu verdanken war, sieht die Sache anders aus. Kein Arbeitgeber bietet heutzutage Arbeit an, die mit einem Risiko für Leib und Leben verbunden wäre. Außerdem trägt Industriearbeit, ungeachtet der humaneren Bedingungen, unter denen heute gearbeitet wird, nur noch zu knapp 25 Prozent zum Sozialprodukt bei. Daher ist bei grundlegend veränderten Arbeitsverhältnissen in der nachindustriellen Wirtschaft ein paritätischer Arbeitgeberbeitrag zur Krankenversicherung nicht mehr gerechtfertigt, zumal eine nachhaltige Reduzierung der Lohnnebenkosten eine wesentliche Vorbedingung für die Schaffung von Arbeitsplätzen ist.

Bei der Reform der Sozialsysteme geht es insgesamt um die Ausrichtung auf einen neuen Sozialbegriff, der statt auf Finanzierung der Ausschließung nach Verlust des Arbeitsplatzes auf Förderung von Wiedereintritt und Teilhabe gerichtet ist. Insbesondere schafft die Wiedereingliederung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse in den Arbeitsmarkt mit Hilfe des Multischeck-Systems neue finanzielle Spielräume für Sozialkassen und Staatshaushalt, die dem Gebot "sozialer Sicherung für alle" wieder Geltung zu verschaffen in der Lage sind. Die Reform der Sozialsysteme sieht in einem Vier-Punkte-Programm vor

    Einführung des Multischecks für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, verbunden mit einer steuerfinanzierten Grundsicherung für weiterhin beschäftigungslose Geringqualifizierte

    Umwandlung der Arbeitslosenversicherung in eine Berufliche Weiterbildungsversicherung für Facharbeiter und Angestellte zur Verwebung von Beschäftigung und Weiterbildung und damit Schaffung durchgängiger Erwerbsbiografien

    Erhaltung der umlagefinanzierten Rentenversicherung mit ergänzendem Aufbau einer zweiten Säule kapitalgedeckter Alterssicherung, prioritär eigen-, zusätzlich steuerfinanziert

    Beibehaltung der dualen Krankenversicherung und schrittweise Überführung der umlagefinanzierten Gesetzlichen Krankenversicherung in eine Standardversicherung nach holländischem Modell mit staatlich finanziertem Sozialausgleich.

aus: Wolfgang Müller-Michaelis, Neue Wege zu mehr Beschäftigung, Resch-Verlag, Gräfelfing 2007

    

 
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