Mümis Bloghouse - Gäste Blog

Wir brauchen eine Debatte um Patriotismus

Die großen Debatten sind im Bundestagswahlkampf 2017 ausgeblieben. Brisante Themen wie die Zukunft des Euro, die Zukunft der deutschen Automobilindustrie oder die Kosten der Energiewende werden von den Regierenden und der sog. Opposition in der Hoffnung marginalisiert, dass man ab 2018 wieder am Volk vorbei machen wird, was man will, und dass das Volk dies bis zur Bundestagswahl 2021 vergessen hat. Man ist sich ja in (fast) allem einig. Sogar die Grünen wollen plötzlich mehr Polizei. Und die höchstbrisante Frage des zu Hundertausenden anstehenden Familiennachzugs wird diskutiert, als befände man sich in einem verwaltungsrechtlichen Proseminar.

Dabei sollte es doch um nichts weniger als um Deutschlands Zukunft gehen. Warum also keine Debatte um Nation und Patriotismus? Weil man lieber auf Non- oder gar Negativ-Identität macht? Weil sich alle – auch die sog. bürgerlichen Parteien – aufschwätzen haben lassen, dass Deutschland, Nation, Volk, Patriotismus igittigitt sind? Dass übrigens ständig von einer Rechtsverschiebung der Republik schwadroniert wird, ist wohl eher ein Beleg für deren nationalallergische Linksverschiebung.

Zur Befeuerung einer überfälligen Debatte mal ein paar Gedanken zu einem aufgeklärten Patriotismus!

1.
Patriotismus ist der natürliche Feind des Nationalismus. Beides lässt sich klar voneinander scheiden: Nationalismus ist Hass auf andere, ist irrationales Freund-Feind-Denken; Patriotismus ist Liebe zum eigenen Land und dessen Geschichte, zum Vaterland, zur Heimat – ohne Überheblichkeit, ohne „Hurra“, ohne Taumel, ohne Völkisches, ohne Deutschtümelei. Hier gilt unvermindert Hannah Arendts Urteil: Der Nationalsozialismus habe zwölf schreckliche Jahre hervorgebracht, aber deutsche Geschichte habe nicht zwölf, sondern bislang 1200 Jahre gedauert. Der Nationalsozialismus sei eben „nicht die Vollendung deutscher Tradition, sondern der totale Ausstieg aus ihr“ gewesen.

2.
Aufgeklärter Patriotismus hat mit kultureller Identität zu tun. Nation ist gemeinsames Gedächtnis und Verantwortungsgemeinschaft – auch gegenüber der eigenen Geschichte. Ohne nationale, kulturelle und sprachliche Identität und Tradition verschwindet die Geschichte, ohne diese Identität wird ein Volk geschichts-, herkunfts- und gesichtslos. Ein Gemeinwesen aber ohne Tradition wäre eine Verweigerung von Identität. „Ich schäme mich der Indifferenz, mit welcher Deutsche ihren spezifischen Beitrag zur Weltzivilisation behandeln“, hat Adolf Muschg zu dieser Frage gesagt. Zukunft ist eben auch Herkunft. Das sei bewusst auch mit Blick auf die großen Deutschen gesagt: Goethe, Schiller, Kant, Hegel, Nietzsche, Einstein, auch Mozart (er sprach ja von seinem „deutschen Vatterland“). (Theodor Heuss war übrigens einer der Herausgeber der fünf Bände „Die großen Deutschen“. Ob es für eine solche Sammlung heute wohl noch einen Verlag gäbe?)

3.
Aufgeklärter Patriotismus hat außer mit der Liebe zum Vaterland mit der Liebe zur Muttersprache zu tun. Demgegenüber ist es erstaunlich, mit welcher Gleichgültigkeit die Deutschen mit ihrer Sprache umgehen: Die deutsche Sprache ersäuft in Anglizismen. Die deutsche Sprache ist als Wissenschaftssprache „out“. Die deutsche Sprache hat in der EU nur eine nachgeordnete Bedeutung, wiewohl sie die am weitesten verbreitete Muttersprache in der EU ist – dies zumal nach dem Brexit! Zugleich fragt man sich: Warum haben es unsere verfassunggebenden Organe immer noch nicht geschafft, die deutsche Sprache als Sprache der Bundesrepublik in das Grundgesetz zu schreiben. Ein CDU-Parteitag (Essen 2008) hat sich dies mit großer Mehrheit gewünscht; der CDU-Vorsitzenden war ein solcher Parteitagsauftrag wieder mal egal.

4.
Aufgeklärter Patriotismus hat als Kehrseite der Medaille Globalisierung mit Bindung nach innen, mit Wir-Gefühl und mit Geborgenheit zu tun. Denn: „Allein die Nation kann die innere Bereitschaft der Menschen wecken, sich solidarisch und selbstlos für das Gemeinwesen einzusetzen“ (Max Weber). Mit Sozialstaatspatriotismus hat das nichts zu tun, weil es bei letzterem um materialistisch geprägte Egoismen geht. Der jüdisch-deutsche Soziologe und Philosoph Norbert Elias hat es kaum anders gesagt: Ein Land braucht „den Zement des Empfindens einer gemeinsamen Identität“. Der Mensch braucht wegen seiner „informationellen Unzulänglichkeit“ Heimat. Der 1977 aus der DDR ausgewiesene Dichter Reiner Kunze sprach dies am Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 2004 ähnlich aus: „Es ist Barbarismus, dem eigenen Land und dem eigenen Volk die Liebe zu entziehen.“ Mit anderen Worten: Je internationaler die Welt, desto notwendiger patriotische Gefühle.

5.
Aufgeklärter Patriotismus hat mit innerem Frieden und Berechenbarkeit zu tun. Was für zwischenmenschliche Beziehungen gilt, das gilt auch für internationale: Wer sich selbst nicht ausstehen kann, der ist selbst für andere unausstehlich. Wer sich selbst nicht traut, der schafft sogar bei anderen Misstrauen. Und: Welcher Migrant lässt sich schon gerne in ein Land integrieren, das sich selbst nicht ausstehen kann? Die türkischstämmige Journalistin Mely Kiyak ist dieser Auffassung: „Wie sollen sich die Eingewanderten mit Deutschland, seiner Kultur, seinem Lebensgefühl identifizieren, wenn es die Deutschen selbst nicht können.“ Der Ehrenpräsident des „American Jewish Committee“, Theodore Ellenoff, sagte es am 20. Oktober 1993 ähnlich: Wenn eine ganze Nation die Liebe zum eigenen Land verschmäht, dann wird eine solche Nation sich selbst und der internationalen Gemeinschaft zum Problem.

6.
Aufgeklärter Patriotismus hat mit Offenheit und Toleranz zu tun. Aufgeklärter Patriotismus hat gewiss auch mit Bindung nach außen zu tun. In diesem Sinne gehören Nation und Europa zusammen; es sind dies zwei Seiten ein und derselben Medaille. Eine Betrachtung Deutschlands ohne Europa wäre eine Verengung. Offenheit und Toleranz (Deutschlands und Europas) müssen jedoch ihre Grenzen dort haben, wo es um die freiheitlichen und rechtsstaatlichen Fundamente geht. Konkret: Eine schleichende Islamisierung ganzer Wohngegenden darf nicht mit dem naiven Argument der „Bereicherung“ geduldet werden. Für den Holocaust-Überlebenden Ralph Giordano wäre dies „deutsche Duckmäuserei.“ Patriotismus hat aber auch damit zu tun, dass sich Identität bei aller Offenheit für anderes und andere eben durch ideelle und reale Grenzziehungen definiert. Denken wir dabei an das kleine Land und Volk der Ungarn. Dieses immer wieder bedrohte Volk weiß seit über einem Jahrtausend, was Grenzen bedeuten. (Übrigens zum Nutzen Deutschlands!) Zudem sind im Ernstfall nur intakte Nationalstaaten handlungsfähig. Nur Nationalstaaten können Rechtsstaatlichkeit garantieren. Nicht hypertrophierte Bürokratiemonster. Ein Mantra von „europäischen Lösungen“ ist in vielen Bereichen Makulatur. Patriotismus ist auch nicht ersetzbar durch „one-world“-Visionen. Ein „global village“ ist allenfalls Medienrealität und im günstigen Fall subjektive Befindlichkeit in der Champagner-Etage und in der Business-Lounge.

7.
Auch aufgeklärter Patriotismus hat mit „Volk“ zu tun. Linke oder halblinke Parteien, also fast alle, möchten den Begriff „Volk“ indes am liebsten ausmerzen. Für sie gibt es zwar ein Volk der Palästinenser, aber kein Volk der Deutschen. Üblicherweise sprechen sie nur von „Bevölkerung“. Ganz schlaue wollten sogar die Inschrift im Giebel des Reichstages „DEM DEUTSCHEN VOLKE“ umbenennen in „DER BEVÖLKERUNG“. Eine Bundeskanzlerin Merkel definiert „Volk“ aktuell so: „Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt.“ (Merkel bei der Landesversammlung der CDU vom 25. Februar 2017 in Stralsund.) Der renommierte Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek hat dagegen eindeutig nachgewiesen, dass das Grundgesetz ein Staatsvolk voraussetzt. Seine Kernaussage ist: „Das Volk ist das Subjekt der Demokratie“. Murswiek weiter: Eine Bundesregierung allein sei „nicht berechtigt, die Identität des Volkes, das sie repräsentiert und dessen Wohl zu wahren sie geschworen hat, einwanderungspolitisch aufzulösen“. Dem stehe das Grundgesetz als „nationalstaatliche Verfassung“ entgegen. Dem steht auch der Amtseid zum Beispiel der Kanzlerin entgegen: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“

8.
Ein aufgeklärter Patriotismus braucht kein Hinausposaunen. Vielmehr gehört zu ihm eine gewisse Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit. Mit einem unaufgeregten Patriotismus verhält es sich wie mit einem Skelett. Man braucht es, aber man muss nicht ständig die Knochen zählen. George Bernard Shaw hatte diesen Gedanken bereits: „Eine gesunde Nation ist sich ihrer Nationalität so wenig bewusst wie ein gesunder Mensch seiner Knochen.“ Mit anderen Worten: Wer ständig an seine Knochen denkt und danach forscht, ob sie ihn nicht schmerzen, ist ein Hypochonder. Aber auch ein aufgeklärter Patriotismus braucht aus emotionalen Gründen Symbole und Zeremonien: die schwarz-rot-goldene Fahne (die sich ein Ende 2013 wahlsiegender CDU-Generalsekretär schon auch mal von seiner Parteichefin aus der Hand reißen lassen musste); die Nationalhymne, die dritte Strophe des Deutschlandliedes gehören dazu. Die Nationalhymne übrigens allein schon deshalb, weil es in ihrem Namen zur friedlichen Revolution in der DDR kam und weil es eine friedliche Nationalhymne ist. In ihr fließt kein Blut, wie das etwa in den Nationalhymnen der Franzosen, der Italiener, der Niederländer und der Polen der Fall ist.

9.
Patriotismus ist mehr als Verfassungspatriotismus. Es greift zu kurz zu glauben, Patriotismus könne auf Verfassungspatriotismus reduziert werden. Gewiss haben wir Grund, auf bald sieben Jahrzehnte Demokratie und Grundgesetz stolz zu sein. Aber ein bloßer Verfassungspatriotismus bleibt ein Notbehelf. Denn Verfassungspatriotismus (ein Begriff, der 1959 erstmals von Dolf Sternberger verwendet wurde) erfasst nur das bloß rationale Bekenntnis zu einem Rechtssystem. Damit aber sind keine emotionalen Bindungen gestiftet. Nur Verfassungspatriotismus, das wäre so, wie wenn man das Fußballspiel nur wegen seiner klugen Regeln mögen dürfte.

10.
Ein aufgeklärter, unaufgeregter Patriotismus ist die wirksamste Haltung, um extremistische und fundamentalistische Rattenfänger abzublocken. Wir brauchen also gesellschaftliche und politische Kräfte, die für einen aufgeklärten, toleranten und weltoffenen Patriotismus eintreten. Und die sich für eine Leitkultur aussprechen. Ein patriotisches Bekenntnis, ein Bekenntnis zu einer Leitkultur wäre im übrigen auch ein Bollwerk dagegen, dass unser Land in Parallelgesellschaften auseinanderdriftet.

11.
In der Frage von Patriotismus geht es um Identität – individuelle und kollektive. Beide Identitäten schöpfen sich aus mehreren konzentrischen Identitätskreisen. Der Kern von Identität ist diejenige, die sich aus der – als Institut und als Keimzelle eines Gemeinwesens mittlerweile von Linken in Frage gestellten – Familie schöpft. Darum herum folgt als erster und nächster konzentrischer Kreis die Heimat, dann die Nation, dann Europa, dann ggf. ein Weltbürgertum. Ein Volk aber, das meint, es könnte aus dem Identitätskreis der Familie sofort in eine „global-village“-Identität springen, hinterlässt nur geistige und mentale Obdachlosigkeit.

 

Der Beitrag von Josef Kraus ist Ende Oktober 2017 erstmalig bei Roland Tichy erschienen

 
-->