Mümis Bloghouse - Gäste Blog

Versuch einer sicherheitspolitischen Lagefeststellung

Mag es für das brave Bürgertum bei belanglosen Gesprächen  „vor dem Tore“ bei Goethes Faust noch sehr beruhigend gewesen sein, wenn „…hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen. Man steht am Fester, trinkt sein Gläschen aus und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; dann kehrt man abends froh nach Haus, und segnet Fried und Friedenszeiten“. Doch manche mögen sich die Augen reiben, denn das „weit hinten“ und „weit weg“ ist uns heute doch sehr nahe! Ist es denn wirklich so lange her, als sich zur Zeit des Kalten Krieges unglaublich vernichtende militärische Potentiale gegenüber standen, unterlegt mit einer sowjetischen Militärdoktrin, die vorsah, innerhalb von wenigen Tagen am Rhein und in vier weiteren Tagen am Atlantik zu stehen? Schon vergessen, dass die Grenze Westdeutschlands von Nord nach Süd durch die „International gemischte Präsenz“ der NATO-Mitglieder mit aktiven, einsatzbereiten Truppen im Rahmen der „Vorneverteidigung“ und „Flexible Response“ gesichert wurden? Die Lage war kritisch, und dennoch schien sie einigermaßen berechenbar, da ein jeglicher Angriff das Ende der menschlichen Existenz zumindest in den Räumen, die es zu gewinnen galt, bedeutet hätte. Immerhin war das jeweilige Machtmonopol relativ stabil, im Gegensatz zu heute, wo unkalkulierbare Organisationen und Terrorbanden Zugang zu Waffen beinahe jeder Art gewinnen können. Ganz plötzlich, spätestens seit dem 11. September 2001 stand der neue Begriff der „asymmetrischen Kriegsführung“ im Raum und führte zu lähmendem Entsetzen, mitten in einer Zeit, als man doch lieber die „Friedensdividende“ einfahren wollte.  

Ja, es war eine hoffnungsvolle Entwicklung, die im Rahmen der besonders von Willy Brandt geprägten Entspannungspolitik vom Kalten Krieg über Gewaltverzichtsabkommen bis hin zum nicht für möglich gehaltenen Auseinanderbrechen der Sowjetunion führte. Das damalige Motto war griffig: „Verteidigung Plus Entspannung = Sicherheit“  

Verteidigung? Wo wir doch von Freunden umzingelt sind? Hier entstand nach der Wende für viele Gutmeinende eine günstige Gelegenheit, den Verteidigungshaushalt zum „Steinbruch der Finanzen“ für konkurrierende Aufgaben heranzuziehen. Sind wir immer noch friedvoll eingebettet, inmitten von „Freunden“?  Die These ist gefährlich ins Wanken geraten, die stabile Peripherie Europas scheint zum Ausfransen zu neigen. Wenn wir auch nicht unmittelbar bedroht sind, so ist unsere Sicherheit aber von einer kollektiven Sicherheitspolitik abhängig. In der Nato und EU wird Deutschland nach seiner geografischen Lage in der Mitte Europas, nach seinem Potential und seinen Fähigkeiten als das Rückgrat der kollektiven Verteidig gesehen und beurteilt. Die Partner in der EU stellen durchaus die Frage, ob Deutschland sich auch dann noch einbringt, wenn es wirklich zählt?  

Wer hat sich das noch vor zwei Jahren vorstellen können, zu welchen menschenverachtenden Handlungen der sogenannte „Islamische Staat“ mit seinen Terrorbanden fähig und willens ist? Aber auch die Krim- und Ukraine-Situation führt zu einer Art Schockstarre. Kaum jemand hat die Invasion kommen sehen, nicht in den Hauptquartieren, nicht in den Kommandostäben. So schreibt Professor Michael Stürmer, Chefkorrespondent der Zeitung „Die Welt“: „Wie der Dieb in der Nacht, so kommen heute die Kriege, ob an den Flüssen Babylons, ob in den blutigen Ackerfurchen Osteuropas. Unser Begreifen bleibt hinter den Realitäten des Krieges von niedriger Intensität allemal zurück. Die Dynamik zu bändigen, die aus Krise Krieg entfesselt und wie, noch wichtiger, der Krieg einzudämmen und zu überwinden wäre, ist die erste Aufgabe der Politik….“(Die Welt, 2.7.2014).  

Seit 1989 war die Welt nicht mehr so voller Gefahren und Unsicherheit, aber es bleibt auch beim Widerspruch zwischen notwendigem Handeln und Skepsis der Bevölkerung, zumal die Einstellung der Bevölkerung wirklich nicht statisch ist. Außenpolitik ist im Wesentlichen auch Sicherheitspolitik, aber welche Schwerpunkte dort zu setzen sind, ist eine Frage, die derzeitig nicht beantwortet werden kann. Eigentlich sind die sicherheitspolitischen Erkenntnisse täglich neu zu beschreiben, und das Dilemma zeigt sich in voller Größe in der Feststellung des Außenministers: “Wenn wir Verantwortung tragen, dann tragen wir Verantwortung für unser Nicht-Handeln genauso wie für unser Handeln.“

Was soviel heißt, dass Problembeschreibungen nicht reichen, sondern in Lösungsansätze umgesetzt werden müssen, und das in einem sehr vielfältigen Umfeld von Herausforderungen. Einmal davon abgesehen, ob die Zuständigkeit der NATO gefragt ist, stehen wir global vor der Frage: Wie entwickelt sich die Situation in Afrika (Mali), Ostasien, China? In welchem Umfang wird die Fragilität von Staaten zunehmen? Terror, organisierte Kriminalität, Umweltschäden, Finanzkrisen,  Massenvernichtungswaffen, dazu auch noch Ebola, fordern die Gesellschaften heraus. Zudem haben alle „weit entfernten“ Krisen auch ein ganz gravierendes Problem zur Folge, nämlich die zunehmenden Flüchtlingsströme! Alle diese Krisenfelder lösen die Frage nach den „Fähigkeiten“ aus - und dazu gehört neben dem Willen ganz besonders das Geld!!  

Es geht darum, um nicht mehr und nicht weniger, das Überleben beziehungsweise die Lebensqualität Deutschlands zu sichern, und das bei mangelndem Zugang zu strategisch wichtigen Rohstoffen und der Gefahr der  Blockade der globalen Seewege. Immerhin werden mehr als 90 Prozent des Welthandels, 95% des Außenhandels der EU und 70 % des deutschen Im- und Exports darüber abgewickelt. Neben der Vertretung der nationalen sicherheitspolitischen Interessen wird  Deutschlands Beitrag von den Partnern immer nachdrücklicher gefordert!   

Ein weiteres, in der Öffentlichkeit zu wenig beachtetes sicherheitspolitisches Risiko liegt in der „Cyber“-Sicherheit. Obwohl der „Empörungs-Tsunami“ über nachrichtendienstliche Aktivitäten eine gewisse Aufmerksamkeit auf diesen Bereich gelenkt hat, werden die Risiken und Gefahren durch organisierte „Cyber-Kriminalität“ aber häufig ignoriert oder ausgeblendet. Die neue Verwundbarkeit kann schnell strategische Dimensionen annehmen. Sehr wahrscheinlich muss mit einer erheblichen Anzahl und großen Vielfalt von verschiedenartigen, weit gefächerten Angriffstechniken und -mitteln gerechnet werden, die derzeit noch nicht erkennbar, geschweige denn umfassend zu beurteilen sind. Nur durch konsequente Verfolgung der „vernetzten Sicherheit“, also des Einsatzes aller politischen, gesellschaftlichen, soziologischen, humanitären, wirtschaftlichen und militärischen Maßnahmen können die sicherheitspolitischen deutschen Interessen verfolgt werden, wozu auch besonders die Wahrung des Wohlstandes gehört. Wird sich unsere Gesellschaft bei nur geringem Absinken des Standards als so leidensfähig erweisen wie die russische oder ukrainische Bevölkerung während der vergangenen 70 Jahre?  

Eine nur umrisshaft skizzierte Lagebeurteilung zeigt auf, dass die Konzentration auf Problemlösung Vorrang hat. Um Handlungsfähigkeit zu behalten, ist eine Verbesserung der nachrichtendienstlichen Erkenntnisse unverzichtbar, auch wenn manche politischen Lager sie am liebsten auflösen würden. Der Sinngehalt der „Kollektiven Sicherheit“ ist durchaus entwicklungsbedürftig, denn nicht nur die Fähigkeit zur Krisen- und Konfliktbewältigung, sondern auch zur konventionellen und kollektiven Verteidigung muss sichergestellt sein. Nicht zuletzt aber darf die Vision einer strategischen Partnerschaft zwischen Russland und NATO nicht aus dem Auge verloren werden, auch wenn dieser Gedanke zurzeit durch die russischen Aktionen geradezu ad absurdum geführt wird. Nach wie vor gilt bei aller Gutgläubigkeit:  

                           Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit!

 
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