MüMis Bloghouse

Quo Vadis, Europa?

Fragt man nach den großen Kräften, die die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unserer Gesellschaft heute bestimmen, kommt man an diesen drei nicht vorbei: der Brüsseler Zentralverwaltungswirtschaft, dem über die EU-Kommission nach Europa ausstrahlenden französischen Staatssozialismus sowie der fiskalischen Klientelpolitik der „unabhängigen“ europäischen Währungsbehörde EZB, die allesamt durch ein Netzwerk überwiegend anti-marktwirtschaftlicher Protagonisten miteinander verbunden sind.

Das Erste, was bei dieser Aufzählung auffällt, ist, dass die Soziale Marktwirtschaft nicht dazugehört. Jenes Wirtschaftsmodell, das das Wirtschaftswunder nach dem totalen Zusammenbruch Deutschlands hervorgebracht und dann zunächst von etlichen europäischen Nachbarn und in einer späteren Phase von den jungen Staaten Südostasiens übernommen wurde und damit zu den kräftigsten Treibern der Weltwirtschaftsentwicklung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts geworden war.

Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine Lebensgestaltung, Leistungsorientierung, Sparsamkeit, Maßhalten, private Vorsorge, um nicht dem Staat zur Last zu fallen, Sozialbindung des Eigentums und größtmögliche Steuergerechtigkeit – das waren und sind die Eckwerte einer Wirtschaftsordnung, wie es sie effizienter und sozialverträglicher in der bisherigen Wirtschaftsgeschichte nicht gegeben hat.

Plötzlich leben wir in einem Europa, in dem dieses vertraute Wertgefüge nicht mehr gelten soll und total auf den Kopf gestellt ist. Die Sparer und die für die Zukunft Vorsorgenden werden bestraft, die Stiftungen, die zu den großen kulturellen Errungenschaften unserer freiheitlichen Zivilgesellschaft gehören, weil sie mit ihren Leistungen in großem Stil Aufgaben übernehmen, von denen der Staat allein überfordert wäre, werden sehenden Auges in ihrer Existenz bedroht, die Schuldner werden schamlos und großzügig belohnt, sie werden zu weiterer Schuldenmacherei motiviert, wo es für ihre Zukunftsfähigkeit doch darauf ankäme, ihnen reformerische Verzichtsleistungen abzuverlangen.

Welch großartiger Wirtschaftsordnung wir unseren Wohlstand noch immer verdanken, scheint uns mit dieser gezielten Umwertung der Werte nicht mehr bewusst zu sein, weil die eigentlichen Wurzeln, denen wir unseren Aufstieg verdanken, offenbar in Vergessenheit geraten sind. Wie Recht doch Ludwig Erhard mit seiner vorausschauenden Mahnung hatte, dass es noch schwerer sei, den Wohlstand zu erhalten als ihn zu erwerben. Unter seinen Verfechtern herrscht zumindest der Eindruck vor, dass unsere Regierung es seit langem aufgegeben hat, in der Sozialen Marktwirtschaft ein verteidigenswertes Zukunftsmodell unserer Lebensverhältnisse zu sehen. Sonst hätte sie ihre nach innen gerichteten wirtschafts- und sozialpolitischen Programme nicht ständig darauf fokussiert, Sand ins marktwirtschaftliche Getriebe zu streuen. Und sie hätte unsere Wirtschaft nicht in dieser eklatanten Weise zum Spielball externer anti-marktwirtschaftlicher Kräfte machen lassen dürfen, wie sie dies fatalerweise getan hat.

So ist die tiefe Verunsicherung in weiten Teilen der Bevölkerung, die sich in entsprechenden Wahlergebnissen niederschlägt, nicht allein in den internationalen Krisenschüben im Weltfinanzsystem oder in den globalen Migrationsbewegungen begründet, für deren negative Auswirkungen auf unsere sozialen Abläufe die Regierung zu Recht nicht haftbar gemacht werden kann. Ihr schuldhaftes Versagen dürfte viel mehr darin bestehen, an den Schalthebeln Europas nicht für angemessene deutsche Repräsentanz und erforderlichen deutschen Einfluss, insbesondere in den strategisch wichtigen Schlüsselbereichen Wirtschaft und Finanzen, gesorgt zu haben. Von einem fernen Stern aus betrachtet mag es als absurdes Theater erscheinen, wenn z.B. bei wichtigen Entscheidungen im EZB-Rat die europäische Wirtschaftslokomotive im Depot bleiben muss, weil es dem deutschen Ratsmitglied wegen eines erst kürzlich eingeführten Rotationsverfahrens nicht einmal gestattet ist, mit dem selben Stimmgewicht wie Malta an jeder Abstimmung teilzunehmen.

Kein Theater sondern bedenkliches Zeichen einer maroden Führungsstruktur Europas ist es, dass das institutionelle Management des europäischen Finanzsystems fast ausschließlich mit Gegnern der deutschen Stabilitätspolitik besetzt ist. So fällt es angesichts der italienischen Herkunft des EZB-Präsidenten Draghi schon gar nicht mehr auf, dass die wichtigste Schaltzentrale der westlichen Finanzwelt, die Führung des IWF, mit der Pariser Finanzpäpstin Christine Lagarde fest in französischer Hand ist. Auch für angemessene Erledigung von Berufungsfragen angesichts der geballten „südeuropäischen Phalanx“ in der finanzpolitischen Exekutive ist vorgesorgt. Der Münchner Rechtsanwalt Peter Gaulweiler kann ein Lied davon singen, welch abenteuerliches Unterfangen es ist, vor einem Europäischen Gerichtshof für das Recht streiten zu müssen, dessen oberster Richter ausgerechnet auch noch ein Grieche ist.

Um dem Vorwurf zu begegnen, mein kritischer Ansatz sei allzu subjektiv geraten, zumal ich mich in vorhergehenden Bloghouse-Beiträgen („Nullbock auf Nullzins“ sowie „Europas Draghik“ u.a.) des Themas bereits angenommen hatte, sollen vier Stimmen aus Frankfurt, British Colombia/Canada, Brüssel und Berlin zum Thema zu Wort kommen, auf die sich jeder Leser selbst seinen ergänzenden Reim machen kann.

Unter dem Titel „Zerrüttete Marktwirtschaft“ setzte sich der große alte Ordo-Liberale Walter Hamm in einem Leitartikel in der FAZ vom 8. April 2016 mit dem „antimarktwirtschaftlichen Handeln staatlicher Politik“ auseinander, das sich „auf vielen Märkten breit“ mache und das auch in den „höchst bedenklichen Preisinterventionen auf den Geld- und Kapitalmärkten seitens der EZB“ Ausdruck finde. „Seit jeher hat es auf diesen Märkten Preise gegeben, die knappes Kapital in die ertragreichsten Verwendungen leiteten. Das hat sich mit der Geldschwemme und der Nullzins-Politik geändert. Die Überversorgung mit Geld weckt Zweifel an der Solidität dieses Kurses und verunsichert die Investoren.“

Etwas derber ging es in einem Leserbrief von Jon Do (21. Oktober 2015) in der deutschsprachigen „Die kleine Zeitung mit Herz“ aus Williams Lake, Britisch Colombia, Canada zur Sache: „Die EZB ist außer Kontrolle. Sie ist ein Spielball der Politik geworden, also gerade das, was sie nie sein sollte und sein durfte. Und der Ex-Goldman-Sachs Mitarbeiter Draghi, der maßgeblich den Griechenlandbetrug eingefädelt hatte, sitzt nun an der Spitze und schmeißt unser Steuergeld in wahren Tanklaster-Ladungen heraus. Schlimme Entwicklung.“

Aus Brüssel meldet sich Hans-Olaf Henkel, ursprünglich AfD-Mitbegründer, in einem Leserbrief an die FAZ (27. April 2016) zu Wort: „Dass der mit der Rettung des Euros zwangsläufig verbundene galoppierende Brüsseler Zentralismus, die den Wettbewerb in Europa erstickende Harmonisierung und die Vergemeinschaftung von Staats- und Bankschulden einige der Ursachen für die Entfremdung vieler Bürger von der EU und für den drohenden Austritt Großbritanniens sind, kann man hier in Brüssel hautnah erleben.“

Schließlich wendet sich in derselben FAZ-Ausgabe vom 27. April 2016 der Stellv. Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Schäfer gegen die Kritik aus den Reihen der Union an der Geldpolitik des EZB-Präsidenten Mario Draghi, indem er sie als „anti-europäisches Geschwätz“ abtut und als Gegenposition vertritt: „Wir sind Herrn Draghi zu Dank verpflichtet. Wir hätten unsere schwarze Null im Haushalt gar nicht ohne die Nullzinspolitik erreichen können.“

Bezeichnend ist, dass die Pro- und Kontra-Positionen zur Draghi-Politik entlang der tektonischen Linien ideologischer Blöcke verlaufen, die das marktwirtschaftliche vom sozialistischen Europa trennen, so dass – während Finanzminister Wolfgang Schäuble und die Finanzpolitiker der Union in der Nullzinspolitik der EZB „massiv das Vertrauen in die gemeinsame Währung“ gefährdet sehen - der deutsche SPD-Fraktionvize Schäfer und die französische Sozialistin Lagarde in trauter Gemeinsamkeit ganz im Gegenteil die EZB für die Schritte loben, mit denen sie „das Vertrauen in die finanziellen Bedingungen in der Eurozone gestärkt“ habe.

Es will nicht recht einleuchten, weshalb sich ausgerechnet das linke Lager in Europa für eine Geldpolitik ins Zeug legt, die sich einerseits gegen Sparsamkeit und Vorsorge wendet und dem in humanistischer Tradition wurzelnden Stiftungswesen das Wasser abzugraben trachtet und die andererseits nach eigenem Bekunden dem naiven Voodoo-Glauben anhängt, dass wirtschaftliches Wachstum aus dem immer schnelleren Rotieren der Druckmaschinen für neue Euroscheine entsteht.

Noch irritierender ist, dass sich in diesem Punkt ein von der Öffentlichkeit bisher nicht wahrgenommenes ordnungspolitisches Zerwürfnis zwischen der deutschen und der französischen Regierung auftut, von denen man eigentlich ein geschlossenes Vorgehen bei der Regelung der europäischen Dinge erwarten würde und worin vor allem auch eine eklatante Führungsschwäche in einem zentralen Strategiefeld  europäischer Politik zum Ausdruck kommt. Auf den eigentlichen Entzündungsherd dieser Führungsschwäche macht der Marburger Kollege Professor Alfred Schüller aufmerksam: Entgegen der noch immer verbreiteten Vorstellung vieler Deutscher, dass wir in unserer angestammten Wirtschaftsordnung lebten, sei die Marktwirtschaft aus dem Regelwerk der europäischen Finanzwirtschaft längst eliminiert. Denn bei der Lösung finanzwirtschaftlicher Probleme würden in einem schleichenden Prozess schon seit längerem Maßnahmen bevorzugt, „die am Leitbild des europäischen Interventionismus im Verständnis der französischen Planification orientiert sind – mit dem Primat der Fiskalpolitik und einer Ausdehnung des politischen Kredits“.

Treffender kann man die Dreieinigkeit der heutigen Währungspolitik der EZB mit dem französischen Staatssozialismus und der tonangebenden EU-Finanzpolitik nicht zum Ausdruck bringen. Offenbar war es bei Gründung der Europäischen Währungsunion doch nicht nur eine Freundschaftsgeste an den linksrheinischen Nachbarn, dass die Euromünze vom Design her exakt dem früheren französischen Franc nachgebildet wurde. Mit dem Design der Münze wurde wohl auch der finanzpolitische Inhalt geprägt. Was bedeuten würde, dass wir, ohne es zu wollen, mit dem Euro nicht nur auf die D-Mark sondern auch auf den ihr zugrundeliegenden Kraftquell, unsere Soziale Marktwirtschaft, verzichtet hätten.

Quo Vadis, Europa?

 
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