MüMis Bloghouse

Populismuskeule mit Bumerangeffekt

In meinem Beitrag zur 2010 von Frank Schirrmacher in der edition suhrkamp herausgegebenen Aufsatzsammlung  „Die Zukunft des Kapitalismus“ habe ich das Zusammentreffen der Umbruchtriade von Globalisierung in der Wirtschaft, digitaler Revolution in der Technik und demographischer Schere in der Gesellschaft am Übergang vom 20. in das 21. Jahrhundert als eine Herausforderung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften von bisher nicht gekannter Dimension beschrieben. Thilo Sarrazin greift diesen Topos in seinen „Betrachtungen zur Populismus-Debatte“ (FAZ 20. Mai 2016) auf, indem er aus dem Unvermögen der Wissenschaft, angesichts dieser beispiellosen Umwälzungen Orientierung zu vermitteln, den Schluss zieht, dass man umso weniger Otto Normalverbraucher vorwerfen kann, wenn er gegenüber der daraus resultierenden „Allgemeinen Verunsicherung“ mental kapituliert.

Sarrazin wendet sich damit gegen die Phalanx der die Meinungsführerschaft beanspruchenden Populismus-Versteher, die sich darin gefallen, den Verunsicherten, die man „den breiten Schichten der vermeintlich Benachteiligten und zu kurz Gekommenen“, d.h. den Opfern dieser Zeitenwende zurechnen kann, in ihrem Aufbegehren, ihrem Protest, ihrem Zorn moralisch auch noch zu diskreditieren. Hier findet, wenn man durch den Pulverdampf des öffentlichen Meinungsstreits auf den Boden des Topfes sieht, das aus mittelalterlichen Zeiten überlieferte Schwarze-Peter-Spiel statt, das im Umfeld der wirren und unübersichtlichen Verhältnisse die Rettung vor eigener Anschwärzung in reaktionsschnellen Anwürfen gegen „die Anderen“ betreibt.

Ein aufschlussreiches Beispiel lieferte der Katholische Kirchentag in Leipzig. Statt die in der Politik in Mode gekommene Unsitte des gegenseitigen Exkludierens zum Thema einer das Ausschließungsdogma überwindenden ökumenischen Debatte zu machen, wird die „Logik der Ausgrenzung der angeblich Bösen“ mit der „Logik der Ausgrenzung durch die vorgeblich Guten“ begründet. Dieses zwielichtige Verhaltensmuster, das quer durch alle Bildungsstände, politischen Orientierungen, Einkommensklassen oder religiösen Bindungen anzutreffen ist, dürfte in den „Vier Erbsünden“ des postmodernen Menschen wurzeln, zu denen ich die Gedankenlosigkeit, die Ignoranz, die Heuchelei (Hypokresie) und die Verleumdungssucht zähle.

In ihrem Zusammenwirken in der alltäglichen Kommunikation haben sie für Otto N. oftmals eine Ventilfunktion, ohne die er den permanenten Überforderungsdruck der stetig wechselnden, aber stets prekären Verhältnisse einer aus dem Ruder gelaufenen Welt kaum zu ertragen in der Lage wäre. Wenn mein rotarischer Freund Christian Starke aus Dresden populistisches Denken als vordergründiges Denken unter Vernachlässigung komplexer Zusammenhänge und sachverständiger Durchdringung der behandelten Fragestellung, kurz: als jeweils aktuell angesagtes „Volksempfinden“ kennzeichnet, so beschreibt er exakt diese Ausweichreaktion des Einzelnen aus seiner Dauerbedrängnis, die er mit der Masse seiner Zeitgenossen teilt.

Zu denen natürlich auch jene gehören, die glauben, dass ihre Vorurteile gegenüber denen der anderen die besseren wären. Nicht wenige derer, die andere mit moralischer Attitüde des Populismus bezichtigen, entpuppen sich bei genauem Hinsehen als Bumerangschleuderer ihrer eigenen undurchdachten Vorwürfe. Es wäre hohe Zeit, den Spieß einmal umzudrehen und jenen – allen voran etlichen Vertretern des politischen Establishment sowie Wortführern in den öffentlich-rechtlichen Medien -, die sich im Rundum-Bezichtigen von Fremdenfeindlichkeit und Rassenhass gefallen, in die Schranken zu weisen und sie ihrer den sozialen Frieden störenden Verleumdungssucht zu überführen.

Höchste Zeit wäre es auch, das, was uns von unserer politischen Führung tagtäglich geboten wird: eine Kombination aus belanglosem „Gerede“ und sterilem Aktionismus, endlich einmal in konkretes Handeln beim Angehen der sich handfest vor uns auftürmenden Probleme in der Bewältigung vor allem der Weltflüchtlingskrise zu überführen. Der Magen dreht sich einem um, wenn man einen der CDU-Führer, Armin Laschet, am 22. Mai 2016 bei „Anne Will“ sagen hört: „Das Flüchtlingsthema ist nicht mehr aktuell, es kommen ja keine Flüchtlinge mehr“.  Bei dieser Einstellung ist es kein Wunder, dass so wenig von dem, was so dringend angepackt gehörte, noch immer der Erledigung harrt:

Wo ist eigentlich das Europäische Flüchtlingskommissariat, das unter Führung eines Flüchtlingskommissars die Flüchtlingspolitik der 28 EU-Mitgliedstaaten koordiniert und längst überfällige Beschlüsse zur weiteren gemeinsamen Vorgehensweise fasst (an die sich dann auch die deutsche Bundesregierung zu halten hätte)?

Wo bleibt der Permanente Europäische Sicherheitsrat zum Schutz der europäischen Außengrenzen, vor allem zum Abfangen der Schleuserladungen in den nordafrikanischen Küstengewässern? Das bisherige hilflose Agieren im Rahmen der EU-Mission „Eunavfor MED“ ist zwar vom humanistischen Ansatz her gut gemeint, aber in seinen Konsequenzen wenig durchdacht. Indem sich die Mission gefügig in die Schleusungs-Infrastruktur der afrikanischen Menschenhändlerringe integriert, dient sie weniger dem Schutz der Europäer vor unkontrollierter Einwanderung als vielmehr als Anreizfaktor für die Menschenhändler, ihr lukratives Geschäftsmodell immer weiter auszubauen.

Zielführend kann nur sein, dass ein europäischer Marine-Schutzverband im EU-Auftrag das gemeinschaftsstaatliche Gewaltmonopol wahrnimmt und die in nordafrikanischen Küstengewässern aufgegriffenen Ladungen zum Festland zurückbeordert. Längst hätte im Zusammenwirken von UNO, UNHCR, EU und der Assoziation Nordafrikanischer Staaten ein Abkommen zur Schaffung exterritorialer Zonen auf dem nordafrikanischen Festland auf den Weg gebracht werden müssen, um dort Auffangcamps für die gestrandeten Migranten zu errichten. Wenn notwendig, ist es nie zu spät, Versäumnisse nachzuholen und eine diesem Zweck dienende Initiative so schnell wie möglich zu ergreifen. Nicht zuletzt, um an die Millionen wanderungsbereiter Afrikaner das glaubwürdige Signal auszusenden, dass Europa kein Ziel unkontrollierter Einwanderung sein kann und sein will, aus welcher Weltregion auch immer.

Die im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise von der Bundesregierung als strategisches Ziel immer wieder angemahnte Bekämpfung der Fluchtursachen ist zwar in seiner formalen Logik richtig, erweist sich indessen in der politischen Praxis in mancher Hinsicht als Leerformel. Was den Nahen Osten und Vorderasien betrifft, sind aktuelle Fluchtursachen zwar die dortigen kriegerischen Auseinandersetzungen, aber diese haben ihren Grund im jahrhundertealten islamischen Schisma, der Spaltung zwischen der sunnitischen und der schiitischen Glaubensrichtung. Wer meint, diese Spaltung dadurch überwinden zu können, dass sich das christlich-jüdisch geprägte Europa umfassender islamischer Einwanderung öffnet, um damit immer stärker in den Sog dieses Religionskrieges zu geraten, trifft zu Recht auf den massiven Widerstand der großen Mehrheit der Europäer.

Leider ist die historische Bildung in Teilen unserer politischen Elite zu wenig ausgeprägt, um sich der apokalyptischen Dimension des 30jährigen Krieges zu erinnern, der im 17. Jahrhundert weite Teile Deutschlands verwüstete und dessen Folgen bis in unsere Tage nachwirken. Eine Volksbefragung in den 28 EU-Mitgliedsländern würde ziemlich sicher ein überzeugendes Mehrheitsvotum der Europäer gegen eine Islamisierung Europas als Beitrag zur Ursachenbekämpfung des Nahostkonflikts erbringen.

Allgemeine Übereinstimmung in der öffentlichen Wahrnehmung herrscht in Bezug auf die Ursachen der afrikanischen Migrationsbewegungen. Hier werden weniger kriegerische Auseinandersetzungen als vielmehr wirtschaftliche Not und Hunger, zuweilen auch politische Verfolgung als Fluchtursachen genannt. Aber auch im Falle Afrikas bleibt der wahre Urgrund des Exodus eher im Hintergrund der öffentlichen Diskussion. Zumindest in der deutschen Flüchtlingsdebatte gilt es als politisch inkorrekt als entscheidenden Auslöser der afrikanischen Flüchtlingsströme die Bevölkerungsexplosion in weiten Teilen des afrikanischen Kontinents zu benennen. Wer dies tut, wird schnell die Populismuskeule und den Rassismusvorwurf zu spüren bekommen.

Um mit diesem emotionsgeladenen Thema nicht am Schluss dieses Beitrags ein „neues Fass aufzumachen“, sei rückblickend zum 100. Deutschen Katholikentag aber doch die Frage gestellt, warum angesichts des beherrschenden Weltthemas Überbevölkerung in keinem der vielen Foren der Lösungsansatz der Geburtenregelung zur Debatte stand. Ein europäischer Appell an den Papst, auch seitens der katholischen Kirche einen konstruktiven Beitrag zur Ursachenbekämpfung der Weltflüchtlingskrise zu leisten, wäre so verkehrt nicht gewesen. Die Chinesen haben vorgemacht, dass Lösungen auf diesem Weg möglich sind.

 
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