MüMis Bloghouse

Wie Europa es gemeinsam schaffen kann

Eine der sechs Titelbildvarianten des SPIEGEL 31 vom 29. Juli 2017, sinnigerweise vom englischen Illustrator Nishant Choksi gezeichnet, bringt einen der Auslöser des Brexit treffend auf den Punkt: die deutsche Kanzlerin in rotem Blazer, trotz eines auf ihr lastenden riesigen Bündels islamisch gewandeter Migranten nicht in die Knie gegangen, schafft es, ihre Bürde mit Würde zu tragen und ihren Kraftakt sogar noch mit freundlichem Gesicht per Selfie eigenständig zu dokumentieren.

Was die von den Umständen erzwungene Entscheidung der deutschen Regierungschefin zur Öffnung der Grenzen in jenen Iden des September 2015 in den Köpfen der Mehrheit der Briten einschließlich des Zeichners Choksi auslöste, ist inzwischen zu europaweiter Einstellung gediehen: sich deutscher Bevormundung beim Einlass überwiegend muslimischer Migrantenströme nach Europa zu entziehen. Außer dem rot-rot-grünen Parteienspektrum unter Einschluss des Luxemburgischen Außenministers gibt es daher in der gesamten EU heute keine nennenswerte politische Gruppierung geschweige denn Regierung mehr, die nicht mit der Position des österreichischen Bundeskanzlers Christian Kern von der SPÖ in einem FAZ-Gespräch (27.7.2017) übereinstimmte: "Jeder, der seine sieben Sinne beisammen hat, muss ein Interesse daran haben, dass die illegale Migration nach Europa gestoppt wird."

Dennoch zählen Migrationsfragen mit ihren breitgefächerten Aspekten und vor dem Hintergrund nicht nachlassender islamistischer Anschläge zu den umstrittensten politischen Themen in den öffentlichen Debatten quer durch Europa. Bei allem Bemühen des CDU/CSU-Teils der Koalitionsregierung in Berlin, die Flüchtlingsproblematik aus dem Wahlkampf herauszuhalten, glauben der SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Martin Schulz und sein Parteigenosse und Vizekanzler Sigmar Gabriel ausgerechnet in dieser Frage die Achillesferse der gegen alle sonstigen Angriffe gut gewappneten Bundeskanzlerin ausgespäht zu haben.

Peinlich ist, heute Dinge zu kritisieren, die man als Koalitionspartner in der Bundesregierung vor zwei Jahren mit entschieden hat. Richtig ist aber, eine gemeinsame europäische Migrationspolitik anzumahnen, deren Zustandekommen bis jetzt durch den Anspruch der Bundeskanzlerin blockiert wird, dass das Regelwerk ihren Vorstellungen von einer nach oben offenen Zuwanderung zu folgen habe. Da diese Haltung in der EU weder heute mehrheitsfähig ist noch je sein wird, ist erstaunlich, wie wenig die Wahlkampfstrategen der SPD aus diesem deutscherseits zu verantwortenden grundlegenden europäischen Dissens in der Migrationspolitik machen. Die Lösung könnte ein EU-Migrationsrat sein, an den alle Mitgliedsstaaten ihre migrationspolitischen Kompetenzen einschließlich der Sicherung der EU-Außengrenzen zu Lande, zu Wasser und in der Luft voll umfänglich abtreten und der seine Entscheidungen mit qualifizierter Zweidrittelmehrheit trifft.

Ein unsichtbares aber gleichwohl starkes Hemmnis bei der Umsetzung einer zielführenden europäischen Migrationsstrategie besteht in mancher bewussten und unbewussten Desinformation des europaweiten rot-grünen Politik-Medienverbundes. Das Ausmaß an Ideologisierung und Emotionalisierung eindeutiger sachlicher Tatbestände, der grassierende Rechtsrelativismus, der in vielen Fällen einem Angriff auf verfasste Bürgerrechte gleichkommt, sowie die damit einhergehende Verunglimpfung Andersdenkender haben in der Migrationsdebatte Ausmaße erreicht, wie sie früher in der Auseinandersetzung um die Atomenergiefrage üblich waren. Dazu gehört auch die missbräuchliche Verwendung des völkerrechtlich fixierten Flüchtlingsbegriffs für alle Fremden, die zum großen Teil unter Verleugnung ihrer wahren Identität sowie unter Verletzung der Einreisebestimmungen Anspruch auf Leistungen aus dem von den Bürgern Europas für ihre eigenen Individual- und Gemeinschaftszwecke geschaffenen Sozialsysteme erheben.

Eine empfindliche Hürde bei der Durchsetzung geordneter Zuwanderungsverfahren ist die weitgehende staatliche Duldung des kriminellen Menschenhandels, indem der Beihilfe zur illegalen Einreise seitens privater NGO-Flotten tatenlos zugesehen wird. Unter Vorgabe der Rettung aus Seenot werden die meist in Küstennähe ihrer Herkunftsgebiete geretteten Opfer statt dorthin zurückgebracht zu werden, woher sie aufgebrochen sind, in Erfüllung von Handlangerdiensten für die Schleuser und unter Verletzung der Einreisebestimmungen in die entfernten von den Schleuserbanden vorgegebenen südeuropäischen Zielhäfen überführt.

Der grassierenden Beeinträchtigung des Rechtsempfindens ist zuzurechnen, dass es von vielen Bürgern gar nicht mehr als Unrecht empfunden wird, wenn sie durch ein Zusammenspiel von Politik und Medien genötigt werden, gegen ihre Überzeugung Dinge zu erdulden, die sie als Verletzung ihrer bürgerlichen Grundrechte empfinden. Sie werden bedrängt, sich nicht gegen die Überfremdung mancher Lebensumstände ob im öffentlichen Leben oder in der unmittelbaren Nachbarschaft aufzulehnen, weil ansonsten die Vorwürfe der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus drohen. So wie der Gebührenzahler der ARD-Tagesschau widerspruchslos hinzunehmen hat, wenn die von ihm finanzierte Nachrichtenmoderatorin mit Migrationshintergrund die Nutzung des von unserem Grundgesetz mit Verfassungsrang ausgestatteten Begriffs "Volk" als nazistisch und rassistisch zu vermiesen versucht.

Die allgemeine Verunsicherung, die aus dem Zusammenspiel von Ideologisierung, Emotionalisierung und Rechtsrelativismus erwächst, führt zu mancher Dusseligkeit im staatlichen Verwaltungshandeln, die den Schildbürgern seligen Angedenkens zur Ehre gereicht hätten. Der heute in Deutschland systematisch und umfassend praktizierte Asylmissbrauch, der das Asylrecht als Ausdruck einer anspruchsvollen Rechtskultur seines Sinnes entleert, kann als exemplarisch für den allgemeinen Verfall an Rechtsstaatlichkeit und für die Außerkraftsetzung von Ordnungsregeln für das Gemeinwesen gelten.

Da wir einerseits aus statistischen Vorläufen vorher wissen, dass nur eine kleine Minderheit aufnahmesuchender Fremder Aussicht auf ein Bleiberecht hat, und wir andererseits die bittere Erfahrung gemacht haben, dass die Abschiebung der Großzahl der abgelehnten Bewerber aus vielfältigen Gründen nicht funktioniert, macht es überhaupt keinen Sinn, sie alle erst einmal unkontrolliert ins Land zu lassen und während der Dauer des "Asylverfahrens" womöglich auch noch Integrationskurse mit ihnen zu veranstalten. Zumal der Einsatz riesiger Bürokratien für diese Null-Summen-Spielerei nicht geringe zusätzliche Kosten verursacht und die Ämter davon abhält, ihren eigentlichen Aufgaben bei der Verwaltung unseres Gemeinwesens nachzukommen.

Bemerkenswerte und hilfreiche Gedanken zur Überwindung der allgemeinen Verunsicherung und zum Abbau der Zerwürfnisse in der Migrationsfrage, die die Menschen in den Parteien, an den Arbeitsplätzen, in den Vereinen, in Freundeskreisen und oft besonders krass in den Familien umtreiben, hat der Grünen-Politiker und Tübinger OB Boris Palmer beigesteuert. In seinem neuen Buch "Wir können nicht allen helfen" greift er die Antithese des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck zur "Wir schaffen das"-Devise der Bundeskanzlerin auf, indem er die praktischen Grenzen moralisch motivierten Handelns aufzeigt. Seine Überlegungen führen ihn zu der, wie er sagt, schmerzhaften Erkenntnis, dass es eine rein moralische Migrations- und Flüchtlingspolitik nicht geben kann. Auch die September-Entscheidung Angela Merkels sei mehr aus der Not geboren gewesen, als dass sie grundsätzlich moralischen Impulsen gefolgt wäre. Schließlich könne man in anderen migrationspolitischen Entscheidungen der Kanzlerin, wie dem Pakt mit dem Autokraten Erdogan oder der Hilfeverweigerung für die Idomeni-Flüchtlinge, wo das Elend ungleich größer war als zuvor am Budapester Bahnhof, keinen moralischen Imperativ erkennen.

Palmer macht das migrationspolitische Grundproblem am enormen Gefälle zwischen Europa und den Krisenregionen im Nahen Osten und in Afrika hinsichtlich aller wesentlichen Lebenschancen - medizinische Versorgung, Bildung, Freiheit, Sicherheit, Wohlstand - deutlich, das eine moralisch nicht auflösbare Spannung erzeuge: "Entweder wir sind bereit, alle diese Errungenschaften mit so unermesslich vielen Menschen zu teilen, dass sie uns zumindest teilweise verloren gehen, oder wir muten den Hilfesuchenden zu, weiterhin in den schwierigen, teilweise unmenschlichen Zuständen in ihren Heimatländern zu leben."

Der Tübinger OB vertritt die Auffassung, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt, als dass wir in der Wirklichkeit unserer heutigen Welt diesen Widerspruch aushalten. Wenn wir nicht allen helfen können, sollten wir uns anstrengen, denen zu helfen, für die unsere verfügbaren Kräfte ausreichen. Das sei nach den Kriterien vernünftigen Handelns die einzig mögliche Vorgehensweise, die zudem die Chance biete, in dieser für Europa existenziell wichtigen Frage mit den Europäern wieder gemeinsame Sache zu machen. Und damit schimmert auch bei Boris Palmer die Idee eines EU-Migrationsrates durch, dessen Funktionsfähigkeit sich eher im gemeinschaftlichen pragmatischen Handeln beweist statt im Beharren auf moralischen Imperativen zu scheitern.

 
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