MüMis Bloghouse

Was im Koalitionsvertrag fehlt

Jeder erinnert sich an erhellende „Aha“-Erlebnisse, die einem beim Lesen zuweilen aufstoßen, indem aus vorher verborgenen Zusammenhängen auf einen Schlag neue Erkenntnisse erwachsen. Ich erinnere mich, als Schüler bei der Lektüre einer Abhandlung des spanischen Diplomaten und Schriftstellers Salvador de Madariaga ein solches „Erweckungserlebnis“ gehabt zu haben. Es ging um die Frage, was einen Rechtsstaat von einem Unrechtsstaat unterscheide. Ich war verblüfft, wie unkompliziert und zugleich überzeugend die Antwort de Madariagas ausfiel: dort, wo das verfasste Recht die politische Macht hervorbringt, haben wir es mit einem Rechtsstaat zu tun. Demgegenüber herrscht Unrecht dort, wo die politische Macht das verfasste Recht links liegen lässt und sich ihre eigenen Regeln für willkürliches Handeln schafft.

Verstört wurde ich an diese Definition mangelnder Rechtsstaatlichkeit erinnert, als die Bundesregierung im Herbst 2015 die deutschen Staatsgrenzen für obsolet erklärte und fast ein Jahr lang eine Million Fremder unkontrolliert – nicht nur mit langfristig unabsehbaren Folgen für Staat und Gesellschaft, sondern auch für den Zusammenhalt in Europa – ins Land strömen ließ. Es muss wohl ein ähnlicher Gedanke gewesen sein, der den bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer sowie eine Reihe hoher Juristen, wie ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, damals zu der Bewertung brachte, dass dieses willkürliche politische Handeln durch das Recht nicht gedeckt sei.

Angesichts der inzwischen eingetretenen Fehlentwicklungen ist nicht verwunderlich, dass dieser Rechtsbruch die innenpolitischen Auseinandersetzungen seither beherrscht, einschließlich des für die Großkoalitionäre desaströsen Ausgangs der Bundestagswahl und der anschließenden langwierigen Regierungsbildung. Mit zunehmender Ungewissheit über den Fortgang der Dinge geriet bei politischen Betrachtern sowohl des rechts- wie des linksliberalen Spektrums die Dauerfehde der Bundeskanzlerin mit dem Rechtsstaat – über den Rechtsbruch bei der Grenzöffnung hinaus – ins Visier.

Eine Dokumentation wichtiger politischer Entscheidungen ihrer Amtszeit kommt jedenfalls zum Ergebnis, dass diese, ob Grenzöffnung, Ausstieg aus der Kernenergie oder Missachtung der Maastrichtregeln bei Euro-Rettung, Staatsverschuldung und Aufziehen von ESM-Rettungsschirmen am verfassten Recht vorbei im Wege autoritärer Entscheidungen getroffen wurden. Auch die später im Gesetzgebungsverfahren den Bundestag durchlaufende Einführung einer „Ehe für alle“ ist aufgrund einsamer Entscheidung der Bundeskanzlerin initiiert worden, den Fraktionszwang bei der Abstimmung aufzugeben und dadurch der Auflösung des in der Verfassung besonders geschützten, den gesellschaftlichen Zusammenhalt seit Jahrhunderten gewährleistenden Rechtsverbundes von Ehe und Familie Tür und Tor zu öffnen.

Ein Regierungshandeln, das mehrfach und in entscheidenden Punkten auf Kriegsfuß mit dem verfassten Recht steht, hätte in einer gut funktionierenden Demokratie auf den harten Widerstand der parlamentarischen Opposition treffen müssen. Da diese in Zeiten der Großen Koalition weitgehend ausgeschaltet blieb, war es nur folgerichtig, dass die SPD nach der verdienten Wahlniederlage beider GroKo-Partner unter der damaligen Führung von Martin Schulz den Weg in die Opposition antreten wollte. Wobei mit der Zielsetzung innerer Stabilisierung der Partei zugleich die Schaffung einer schlagkräftigen oppositionellen Gegenmacht und damit die Öffnung für Zugluft zur Wiederbelebung der parlamentarischen Demokratie verbunden war.

Die Frage steht im Raum, ob der Bundespräsident gut beraten war, diese Bestrebungen der SPD mit seiner Intervention zu konterkarieren, indem er der notleidenden exekutiven Gewalt unter die Arme greifend der in noch rauere Gewässer geratenen legislativen Gewalt keinen Gefallen tat. Jedenfalls hat er mit seinem Ziel, die Regierungsbildung unter Einschluss der sich sträubenden SPD einzufordern, zugleich die Kraft der Opposition im Parlament erheblich geschwächt. Die Entwicklung wird zeigen, ob der Bundespräsident mit seinem sicher gut gemeinten Eingreifen der parlamentarischen Demokratie am Ende nicht doch einen Bärendienst erwiesen hat. Umfrageergebnisse, nach denen die SPD-Werte noch unter die der AfD gerutscht sind, lassen jedenfalls nichts Gutes erwarten. Auch wenn es zu einem erfolgreichen Abschluss der Regierungsbildung und zu einer politischen Umsetzung der zwischen den Koalitionspartnern vereinbarten Ziele kommen sollte, hat Otto Normalverbraucher wenig Anlass, mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken.

Zu sehr hat beim Aushandeln der Koalitionsvereinbarung das Geschacher um Ressorts und das Abstecken der Einflusssphären der Koalitionäre vor der Behandlung von Sachthemen im Vordergrund gestanden. Fragen von nationalem Interesse in den Bereichen der Migrations-, Europa- und Sicherheitspolitik sind nicht ihrem Gewicht entsprechend behandelt worden. Die geheime Staatsraison der „Sonderwegsbesessenheit“, nach der Deutschland als einziges Land der Welt „wegen seiner Geschichte“ keine nationalen Interessen geltend zu machen sondern sich den Anforderungen der Globalisierung in der Innen- wie in der Außenpolitik willenlos zu fügen habe, beherrscht unausgesprochen die Grundlinien der Koalitionsvereinbarung. In dieser Hintanstellung eigener Interessen spiegelt sich auch das Versagen, eine Antwort auf die markante Wählerabwanderung schuldig geblieben zu sein, von der beide Koalitionspartner, wenn auch unterschiedlich stark, existenziell getroffen wurden.

Dabei liegt es in der Tragik der SPD, in der Stunde des Niedergangs zunächst mit der moralischen Kraft der traditionellen Volkspartei entschieden zu haben, sich zur Wiedererlangung verlorengegangenen Profils auf sich selbst zurückzuziehen, um dann mit einer von außen angestoßenen Kehrtwende in den Sog der Merkelschen Verdrängungsstrategie hineingezwungen zu werden. Auf diese Weise ist im Koalitionsvertrag unadressiert geblieben, was die Flucht der SPD- und Unionswähler aus beiden ehemaligen Volksparteien ausgelöst und was Berthold Kohler im Hinblick auf den „Umgang mit der zentralen Frage der Migration in all ihren Aspekten“ treffend auf den Punkt gebracht hat: „Es ist die Angst vor der Selbstaufgabe des Staates und die Sorge um den Bestand dessen, was man im weitesten Sinne Heimat nennt.“

Das Verständnis des Staates als einer Schutzmacht, die die Bürger vor den Gefährdungen einer in Unruhen und Kriege gestürzten Welt in Obhut nimmt, sucht man im Grundsatzpapier der künftigen Regierung genauso vergebens wie das Einfordern eines gesunden Patriotismus, ohne den Umbruchzeiten wie diese nicht zu bewältigen sind. Im Gegenteil wird der in Generationen aufgebaute vorbildliche Sozialstaat, auf dem der innere Frieden in diesem Land noch immer beruht, durch ideologisch verbrämte Freigiebigkeit gegenüber den Zugriffen ausländischer Begehrlichkeiten bedenkenlos aufs Spiel gesetzt.

Es ist schwer zu verstehen, mit welcher Selbstverständlichkeit die verantwortlichen Politiker in Deutschland für den gesamten Migrationskomplex – nimmt man die direkten Leistungen für Versorgung und Unterbringung mit den viel höher zu Buch schlagenden indirekten Lasten aus staatlicher und kommunaler Verwaltung, Innerer Sicherheit, Justiz, Gesundheitspflege, Ausbildung und Integration sowie Kriminalität zusammen – jedes Jahr aus der Tasche der Steuerzahler einen nahezu dreistelligen Milliardenbetrag aufwenden, während auf den eigentlichen wichtigen Aufgabenfeldern des Staates in den Schulen, im Verkehrswesen, beim Ausbau der digitalen Infrastruktur, bei der Ausrüstung der Bundeswehr, bei der Pflege, bei den Kitas, etc. die finanziellen Mittel nicht reichen. Zum moralischen Imperativ der Migrationspolitik würde es daher auch gehören, in einem jährlichen Monitoring die in diesem Bereich anfallenden Gesamtbelastungen von Bund, Ländern und Kommunen ehrlich auszuweisen. Auch beim Einschenken von reinem Wein in dieser Frage bleiben im Koalitionsvertrag etliche Öchslegrade zu wünschen übrig.

Wenig überzeugend sind schließlich die im Koalitionspapier skizzierten Ziele der Europapolitik. Anstatt sich auf die Fortentwicklung der Gründungsideen der Europäischen Union zu konzentrieren, im Innern das friedliche Zusammenleben untereinander zu gestalten und nach außen eine Schutzgemeinschaft gegenüber den globalen Gefährdungen zu bilden, wird mit einem Treuebekenntnis zur Währungsunion in ihrer heute bestehenden Form ihre dringende Reformbedürftigkeit ausgeklammert. Dagegen deutet manches auf eine Unterstützung der Koalitionäre für eine auch hier die deutschen Interessen hintanstellende Transferunion hin, die im Übrigen im Zuge der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank seit zwei Jahren - von der Bundesregierung unwidersprochen - bereits in hoher Blüte steht. Da gehört es schon fast zum guten Ton, dass die EZB hinter dem Schutzschild ihrer rechtlichen Unabhängigkeit, aber unter Bruch ihrer Statuten, eine reine Klientelpolitik zugunsten der hoch verschuldeten Süd- und zu Lasten der solide wirtschafenden Nordländer der Union betreibt.

Während die Notenbank mit einem hochkarätigen Anleihekaufprogramm vertragswidrige Staatsfinanzierung betreibt, dient ihre Nullzinspolitik vor allem der Entlastung der Schuldenfinanzierung der südeuropäischen Hochschuldenländer ohne Rücksicht auf die volkswirtschaftlichen Belange solide wirtschaftender Länder wie Deutschland. Obgleich mit der Nullzinspolitik nicht nur die Steuerungsfunktion des Preises auf den Leitmärkten der Marktwirtschaft – den Kapitalmärkten - außer Kraft gesetzt und zugleich das für eine freie Gesellschaft systembildende Vorsorgeprinzip zu Lasten von Sparern, Banken, Versicherungen und Stiftungen unterlaufen wird, sehen beide Koalitionspartner offenbar keinen Anlass, gegen diese schwerwiegenden Angriffe auf unsere Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft Position zu beziehen. Auch das fehlt im Koalitionsvertrag: Was CDU/CSU und SPD tun wollen, um der Ausplünderung der deutschen Sparer endlich Einhalt zu gebieten.

 

Dieser Beitrag ist ab 28. Februar 2018 in "Tichys Einblick" / Sektion "Meinungen"  erschienen (1.400 Likes)

 
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