MüMis Bloghouse

Um den heißen Brei - Merkels Antwort an Macron

Der Antwort von Bundeskanzlerin Merkel auf die Vorschläge von Präsident Macron zur „Erneuerung Europas“ kann man das ernsthafte Bemühen um eine Unterstützung der französischen Initiative nicht absprechen. Schüttelt man die vielen schönen Worte zum Kernthema der europäischen Finanzreform indessen durch das Sieb konkreter Handlungsempfehlungen, bleibt nicht viel mehr als die Absicht, erneut eine Menge Geld in die Hand zu nehmen, um mit einem weiteren Versuch alle die Bemühungen, die sich bisher als vergeblich erwiesen haben, noch einmal mit verschärftem Einsatz zu wiederholen.

Was dabei fehlt, ist die überzeugende Begründung dafür, weshalb die längst überfälligen Reformschritte, die infolge von Interessenkollisionen und divergierenden politischen Zielvorstellungen innerhalb der EU-Mitgliedschaft bisher nicht durchsetzbar waren, jetzt plötzlich realisierbar sein sollten. Die eigentliche Glaubwürdigkeitslücke zwischen dem, was bei der „Erneuerung Europas“ als Aufgabe ansteht, und dem, was der französische Präsident und die deutsche Kanzlerin in unterschiedlicher Tonalität zur Lösung anzubieten haben, besteht darin, dass die Ursache des krisenhaften Dauerzustands Europas von keinem der beiden konkret angesprochen wird:

Die ökonomische und finanzielle Spaltung der EU in zwei Ländergruppen, die ihre je unterschiedliche Leistungskraft und Wettbewerbsfähigkeit nicht wie im Marktsystem üblich durch Ab- oder Aufwertung ihrer Währungen zum Ausgleich bringen können, die den Leistungsschwächeren die ungehinderte Beschickung der Märkte zu für sie fairen Bedingungen ermöglichen würde; sondern die statt dessen dem Dauerfrust ausgesetzt sind, ihre Waren unter dem Joch einer Gemeinschaftswährung  - d.h. bei ausbleibender Wechselkursanpassung – zu für sie künstlich überhöhten Preisen anbieten zu müssen und damit nur schwer absetzen zu können.

Da dieser währungspolitische Geburtsfehler des Euro nun einmal besteht und von kaum einem der fachlich zuständigen Politiker Europas als solcher verstanden wird, gilt dieser eigentliche Auslöser der europäischen Misere als Tabuthema und es werden je nach Interessenlage unterschiedliche Erklärungsversuche und daran geknüpfte Lösungsansätze herumgereicht.

Was Emmanuel Macron mit der in seiner Sorbonne-Rede adressierten „Katze“ tatsächlich meinte, hat er in seiner Dankesrede für den Europäischen Karlspreis Anfang Mai in Aachen „aus dem Sack gelassen“. Dort sprach er frei von der Leber weg davon, dass Deutschland nicht „im ewigen Fetischismus von Handels- und Haushaltsüberschüssen“ gefangen bleiben dürfe, „denn das geht immer zu Lasten anderer“. Nicht ganz fair war es, in diesem Zusammenhang zu unterlassen, den Deutschland massiv belastenden Target-Salden-Mechanismus anzusprechen, der als rechnerische Gegenposition zu den Außenhandelsüberschüssen zu sehen ist.

Diese Art verschlüsselter Kommunikation, mit der der charmante Franzose seine handfesten nationalen Interessen in das Gewand der Förderung des europäischen Gemeinwohls zu kleiden versteht, war schließlich auch der Grund dafür, dass er so lange auf eine Antwort aus Berlin warten musste. Denn auch die Kanzlerin war gehalten, mit ihrer Retourkutsche „auf Bande“ zu spielen. Zunächst war infolge der langwierigen Koalitionsverhandlungen bei der deutschen Regierungsbildung unklar, wie groß der Spielraum sein würde, den Vorstellungen Macrons entgegenzukommen. Als sich die Waage vorübergehend zu einer Koalition mit FDP-Beteiligung neigte, wurden aus Paris entsprechend besorgte Stimmen laut. Mit Bildung der GroKo war an der Seine ein Stimmungsumschwung unverkennbar, hatten doch führende SPD-Politiker, allen voran der damalige Parteivorsitzende Martin Schulz in naiver Verkennung der eigentlichen Ziele der Macronschen Initiative für dessen volle Unterstützung geworben.

In dieser Wartezeit auf die Antwort aus Berlin rief der Macronsche Vorstoß einen breiten Widerspruch im liberal-konservativen Spektrum von Parteien und Verbänden nicht nur in Deutschland sondern europaweit hervor. Die Finanzminister der Niederlande, Irlands, Dänemarks, Schwedens und Finnlands sowie der drei baltischen Staaten schlossen sich sogar zu einer „Nord Allianz“ zusammen, der sich später auch die Slowakei und Tschechien anschlossen, um den von Macron und der EU-Kommission beabsichtigten Marsch in eine Transfer- und Haftungsunion als teuren, allein die Nordeuropäer belastenden Irrweg abzuwehren.

In einem Aufruf warnten 154 deutsche Wirtschaftsprofessoren vor den hohen Risiken, die die Vorschläge von Präsident Macron für die Bürger Europas mit sich brächten. Insbesondere der Vorschlag, einen europäischen Finanzminister mit einem eigenen Budget einzurichten, der an den Parlamenten und Regierungen der Mitgliedsländer vorbei auf das wirtschaftliche Geschehen in der EU Einfluss nehmen soll, würde nach Auffassung der Wissenschaftler nur zur Verschärfung bereits eingetretener Fehlentwicklungen führen: d.h. vor allem das Agieren der Europäischen Zentralbank (EZB), anstatt sich um ihren verfassungsgemäßen Auftrag der Währungsstabilität zu kümmern, noch weiter in Richtung eines reinen Schuldenmanagements zu intensivieren. Die absurd hohen Anleihekäufe der EZB kämen „schon jetzt einer Staatsfinanzierung über die Zentralbank gleich“, heißt es in dem Aufruf.

Die Leser meines Blogs wissen, dass ich seit Jahren mein Unverständnis über das Schweigen der Bundesregierung zu dieser zutiefst europafeindlichen Politik einer zentralen europäischen Institution zum Ausdruck bringe. Dass es dabei nicht um Nörgeleien zu Nichtigkeiten geht, bringt die Neue Zürcher Zeitung (13. Februar 2018) auf den Punkt: „Die heutige Konstellation im schuldendurchtränkten Finanzsystem Europas birgt in sich die Gefahr, das Vertrauen in unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung zu erschüttern.“ Aus Schweizer Nüchternheit in norddeutsche Direktheit übersetzt kann ich nur konstatieren, dass die EZB unter Führung ihres Präsidenten Mario Draghi zu einer Raubrittertruppe degeneriert ist, die unter Brechung europäischen Rechts die Sparer Nordeuropas schröpft, um den Italienern und den übrigen Südländern das weitere Schuldenmachen zu erleichtern – und sie auf diesem Wege fatalerweise davon abzuhalten, die zur Wiedererlangung ihrer Wettbewerbsfähigkeit notwendigen Strukturreformen durchzuführen.

Diesen breitgefächerten Vorbehalt im rechtsliberalen Spektrum sowohl Deutschlands als auch der EU standen die euphorischen Ergebenheitsadressen an den „französischen Retter Europas“ im linksliberalen Lager, wie stets von den hiesigen öffentlich-rechtlichen Medien angeführt,  gegenüber. Vor diesem Hintergrund und angesichts divergierender Erwartungshaltungen innerhalb der Regierungskoalition – im Wahlmodus verstrickte CSU einerseits und von Profilierungsnöten geplagte SPD andererseits – war von der Kanzlerin ein ansehnlicher Spagat gefordert.

Abgesehen davon, dass das Kernthema der ökonomischen und finanziellen Spaltung und ihrer Verursachung tabuisiert bleibt und nur indirekt in der kaskadenhaften Fülle alt-neuer finanzwirtschaftlicher Instrumente zugunsten der strukturschwachen Mehrheit der EU-Mitgliedsländer reflektiert wird, kann der Gegenentwurf Angela Merkels zu Emmanuel Macrons Plänen im formalen Aufriss durchaus als handwerklich gelungen betrachtet werden.

Unter den vier Themenfeldern Neuordnung der Finanzverfassung, Stärkung der Innovations- und Wirtschaftskraft, gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik sowie gemeinsame Asyl- und Entwicklungspolitik widmet die Kanzlerin den bei weitem größten Teil ihrer Überlegungen der Neuordnung des europäischen Finanzsystems. Dabei geht es um drei unterschiedliche Finanzierungsbereiche: einen Europäischen Währungsfonds statt des EMS mit unterschiedlichen Förderzielen und erweiterten Kreditlinien, einen Investivhaushalt zur Förderung von Innovation und Wachstum als Gegenentwurf zu dem von Macron geforderten Eurohaushalt von drei Prozent der Wirtschaftsleistung und schließlich ein zusätzliches Finanzbudget für strukturschwache Länder und Regionen zur Verbesserung der Konvergenz des Euroraumes.

Während der ehemalige EU-Kommissar Verheugen kritisiert, dass es zusätzlicher Investivhaushalte nicht bedürfe, da der bereits vorhandene „Juncker Fonds“ mit 60 Milliarden Euro ausreichend ausgestattet sei und die Mittel daraus nur zögerlich abgerufen würden, bezweifelt der FDP-Vorsitzende Lindner die Sinnhaftigkeit, aus dem geplanten Währungsfonds „eine Art Dispo-Kredit“ für unsolide Staaten zu machen. Daher fragt auch die FAZ, ob allein die Schaffung neuer Kredittöpfe für die Eurozone eigentlich der richtige Weg sei, um eine gemeinsame europäische Identität zu stiften. Unzufrieden dürfte nicht zuletzt auch der französische Präsident sein, da die Kanzlerin ihm mit ihrer Antwort den Einsatz eines „Systemhebels“ verweigert, mit dessen Hilfe überschüssige deutsche Finanzkraft dauerhaft in die strukturschwachen Regionen Europas umzuleiten wären. Die Kanzlerin ihrerseits hat es vermieden, der von Macron geforderten Transfer- und Haftungsunion eine offizielle Absage zu erteilen, auch wenn sie in Begleitkommentaren anmerkte, dass an dem der Marktwirtschaft immanenten Prinzip „Risiko und Haftung in einer Hand“ nicht gerüttelt werden dürfte.

Neue und originelle Töne schlägt Angela Merkel mit ihren Vorschlägen zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik an. In der Absicht, den Gemeinschaftsgeist Europas bei der Wahrung seiner ureigenen Interessen zu fördern, sind beide Kernvorschläge zu diesem Komplex von Gewicht:

  • die nichtständigen Sitze von EU-Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat zu europäischen Sitzen zu machen sowie

  • einen Europäischen Sicherheitsrat mit nur wenigen Mitgliedern bei rotierender Mitgliedschaft einzurichten.

    Auch der Macronsche Vorstoß, die in der neuen Weltlage geforderte Eigenständigkeit Europas in Fragen der militärischen Sicherheit mit dem Aufbau einer von der NATO unabhängigen Eingreiftruppe zu untermauern, findet die volle Unterstützung der Kanzlerin. Hier muss allerdings deutscherseits vor weiteren multilateralen Schritten hart daran gearbeitet werden, die desolaten Zustände mangelnder eigener Verteidigungsbereitschaft anzugehen. Das vernichtende Urteil der „Sunday Times“ zu diesem Thema (13. Mai 2018) sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden: „Deutschland verärgert seine Verbündeten, indem es bei der Verteidigung schnorrt. Zudem ist es seinen EU-Verbündeten bei der Migration auf die Füße getreten. Das ist nicht gerade ein verlässlicher Partner.“

    Auch zu den nicht allein von den Briten beklagten Alleingängen der Bundesregierung in der Asylpolitik bekundet die Bundeskanzlerin in ihrem Konzept unter Hintanstellung ihres früheren emotional-moralischen Impetus ein erfreuliches Umdenken in Richtung eines pragmatischen Gemeinschaftshandels. Diese überfällige Neuausrichtung kommt nicht nur darin zum Ausdruck, dass sie die Themen Grenzsicherung, gemeinsame Asylpolitik und Bekämpfung der Fluchtursachen „als wirkliche Existenzfrage für Europa“ betrachtet. Die Kanzlerin ist darüber hinaus zu der fast sensationell anmutenden Einsicht gelangt, dass „wir in der Endausbaustufe eine gemeinsame europäische Flüchtlingsbehörde brauchen, die an den Außengrenzen alle Asylverfahren durchführt, auf der Grundlage eines einheitlichen europäischen Asylrechts“.

    Als Dauerkritiker der bisherigen Merkelschen Flüchtlingspolitik empfinde ich es als Genugtuung, dass sich mein im Bloghouse vorgetragener Lösungsansatz einer „Europäisierung des Asylrechts“ („Wie Europa es gemeinsam schaffen kann“ vom 1. August 2017) in der jetzigen migrationspolitischen Agenda der Bundeskanzlerin wiederfindet: „Die Lösung könnte ein EU-Migrationsrat sein, an den alle Mitgliedsstaaten ihre migrationspolitischen Kompetenzen einschließlich der Sicherung der EU-Außengrenzen zu Lande, zu Wasser und in der Luft vollumfänglich abtreten und der seine Entscheidungen mit qualifizierter Zweidrittelmehrheit trifft.“

    Bedauerlicherweise haben sowohl das französische Erneuerungskonzept als auch der deutsche Gegenentwurf bei weitgehender Fokussierung auf die europäische Finanzreform ein Topthema der aktuellen europapolitischen Agenda ausgelassen. Es ist das zur Zeit wohl am stärksten auf den Nägeln brennende Politikversagen der extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit in der südeuropäischen Schuldenländern. Es ist schwer zu verstehen, weshalb gerade dieses Thema so stiefmütterlich behandelt wird, zumal es im Unterschied zu der nur langfristig anzugehenden Neuordnung des europäischen Finanzsystems gute Chance relativ kurzfristiger Realisierbarkeit bietet. Ein „Beschäftigungspakt für die Jugend Europas“ ist kein Traumprojekt wie die Reform der Eurozone, weil die arbeitsmarktpolitischen Expertisen in Fülle vorliegen. Sie bedürfen nur des gezielten politischen Willens, umgesetzt zu werden. Mein Beitrag zum Thema „Neue Wege zu mehr Beschäftigung“ ist seit zehn Jahren verfügbar.

 
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