MüMis Bloghouse

Die Soziale Marktwirtschaft der Transferunion opfern?

Nachdem der Wiederaufbaufonds der EU die Hürden im Europäischen Rat genommen hat und die vom BVerfG geforderte Prüfung der Verhältnismäßigkeit für die unorthodoxen geldpolitischen Maßnahmen der EZB als erledigt betrachtet wurde, sind diese Ergebnisse in Europa rundum mit Erleichterung aufgenommen worden. Ob aber der mit beiden Entscheidungen verbundene gigantische Schuldenaufbau die EU tatsächlich in den sicheren Zukunftshafen zu steuern vermag, muss mit einem großen Fragezeichen versehen werden. Es spricht Bände, dass in den Kommentaren die ordnungspolitische Perspektive dieses Schrittes in die Transferunion ausgeblendet blieb: Ist die EU mit der erneuten Weichenstellung in Richtung Vergemeinschaftung von Schulden und Haftung auf dem Wege, jenen Systemwechsel zu vollziehen, an dessen Ende eine kollektivistische Staatswirtschaft unser bewährtes Erfolgsmodell der Sozialen Marktwirtschaft verdrängt haben wird?

 

Den wenigsten Beobachtern dürfte klar sein, dass es sich bei der Auseinandersetzung um die Geldpolitik der EZB und beim Streit um den EU-Wiederaufbaufonds um zwei Seiten ein und derselben Medaille handelt. In beiden Fällen geht es um gigantische Umverteilungsprogramme von den Nordstaaten der EU, denen man gemeinhin ein sparsames Haushalten attestiert, zu den hochverschuldeten Südländern, die eher im Ruf stehen, mit ihren üppigen Sozialsystemen über ihre Verhältnisse zu leben.

Die 2016 vom damaligen italienischen EZB-Präsidenten Mario Draghi eingeführte Nullzinspolitik verbunden mit inzwischen billionenschweren Anleihekaufprogrammen be- und entlasten die beiden Ländergruppen im Prinzip in derselben Weise wie das mit dem 750 Mrd. Euro breit geschnürten Hilfspaket zur Überwindung der Wirtschaftseinbrüche infolge der Coronakrise beabsichtigt ist. Gemeinsam ist beiden kreditierten Zahlungsströmen, dass zu ihrer Tilgung Wechsel auf die künftige Generation gezogen werden, weshalb es ganz passend (wenngleich sicher nicht so gemeint) ist, wenn dem Aufbauprogramm in Brüssel die Amtsbezeichnung "Next Generation EU" gegeben wurde.

Es verwundert nicht, dass angesichts dieser zeitliche und materielle Grenzen sprengenden Dimensionen der finanziellen Dispositionen auf Gemeinschaftsebene das Ringen um das Für und Wider besonders kontrovers ausfällt. Wozu eine in der öffentlichen Debatte vorherrschende verzerrte Optik beiträgt, es ginge bei dem Streit allein darum, die sperrige Haltung der reichen Nordländer zur Hilfe für die notleidenden Südeuropäer zu brechen. So einfach ist es aber nicht, wie der einer Parteinahme unverdächtige Chef der Hamburger ZEIT-Stiftung Michael Göring einwirft, dass es beim Aufbauprogramm im Interesse der "Next Generation" nicht um das reine Geldausgeben gehen dürfe, sondern dass wirksame Kontrollmechanismen dafür sorgen müssten, das Geld in zukunftsträchtige Innovations- und Reformprojekte zu lenken, anstatt es in korrupten Bürokratien und maroden Sozialsystemen versickern zu lassen.

Was die Forderung nach Kontrolle beim Wiederaufbaufonds, ist die Anmahnung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Nullzins und Anleihekaufprogramm der EZB. Das Urteil des BVerfG vom 5. Mai 2020, das vielerorts als Provokation gegenüber dem EuGH empfunden wurde, gilt anderen als unverzichtbares Prüfgebot bei Maßnahmen, die zu Kollateralschäden und Rechtsverletzungen führen, die deren Zweckmäßigkeit in Frage stellen könnten. Dem ehemaligen Verfassungsrichter Udo Di Fabio, der sich hierzu in einem Zeitungsaufsatz äußerte, erscheint zwar die Zurechtweisung des EuGH durch das BVerfG nachvollziehbar, er neigt aber angesichts der fragilen Verfassungswirklichkeit der EU und wohl auch wegen der "Macht des Faktischen" bei der Hochverschuldung der Südländer dazu, der unorthodoxen Geldpolitik der EZB gegenüber ein Auge zuzudrücken.

Streitigkeiten durch Umdefinieren von Problemlagen zu neutralisieren und beizulegen mag zwar ein wohlfeiles Mittel im politischen Alltagsgeschäft sein, wenn es um ordnungspolitische Kernfragen geht, verfängt diese Methode eher nicht. Dann muss genau hingesehen werden, was sich hinter den Begrifflichkeiten von Verhältnismäßigkeit und Kollateralschaden an konkreten Tatbeständen verbirgt.

Ist es verhältnismäßig, zur Erleichterung der Zinslasten hochverschuldeter Länder dem systembildenden Produktionsfaktor der Marktwirtschaft, dem Kapital, seinen Preis sprich Zins zu nehmen und ihn damit seiner systemischen Steuerungsfunktion zu entledigen?

Ist es nicht einer Prüfung wert, ob die mit der Nullzinspolitik verbundene Kapitalflucht in die Immobilien zu ähnlichen Blasen führt, wie wir sie von der Finanzkrise 2007/2008 kennen, ganz abgesehen von den Mieterhöhungen, die besonders hart einkommensschwache Mieter treffen?

Ist es ein hinnehmbarer Kollateralschaden, mit der Nullzinspolitik Kahlschlag für ganze Wirtschaftszweige wie Banken-, Sparkassen- und Versicherungswirtschaft zu betreiben?

Ist es verhältnismäßig, in einem freien Land dem Bürger im Wege der Nullzinspolitik zu verwehren, eine eigenständige kapitalgedeckte Altersversorgung aufzubauen?

Ist es auf Dauer hinnehmbar, dass selbst Rentenkassen, Pflegeversicherung und Krankenkassen für die Einlagerung ihrer gesetzlichen Rücklagen infolge der Nullzinspolitik mit Strafzinsen belastet werden?

Ist es akzeptabel, dass eine der größten Errungenschaften der hochentwickelten Zivilgesellschaft, das Stiftungswesen, infolge der Nullzinspolitik in eine existenzielle Gefährdung gerät, womit vielfältige Entlastungen des Staates in den Bereichen Soziales, Gesundheit, Ökologie, Bildung und Kultur hinfällig werden?

Kaum Beachtung in den Kommentaren zum Macron-Merkel-Projekt findet der Hinweis, dass es den satten Finanztransfer gen Süden zu Zeiten der Mitgliedschaft der Briten in der EU nicht gegeben hätte. Denn die im Lissaboner Vertrag festgelegte 35prozentige Sperrminorität der Nordländer gegenüber den klassischen Begehrlichkeiten des Südens ist mit dem Brexit entfallen. Zugleich ist mit der Verschiebung des geopolitischen Magnetfeldes der EU eine Nord-Süd-Verlagerung der politischen Machtbalance einhergegangen, die eine unmittelbare Neujustierung des ordnungspolitischen Kompasses zur Folge hat. Im Ergebnis stellt sich insbesondere für Deutschland die Systemfrage: Ist nach dem Ausfall eines markanten Protagonisten Abschied von der Sozialen Marktwirtschaft angesagt, wo doch die neu zur Macht gekommenen Kräfte heftig zur Systemvariante einer kollektivistischen Staatswirtschaft drängen?

Das Karlsruher Urteil vom 5. Mai kann daher auch als Anfrage an die Europäer verstanden werden, ob ein solcher Systemwechsel tatsächlich von ihnen gewollt ist, wenn ihnen bewusst wird, dass dieser mit dem Übergang in die Transferunion vollzogen wäre. Zumal wenn man die parallel laufenden Bestrebungen in Rechnung stellt, eine solche wohlfahrtsstaatliche Ordnung durch "Vertiefung" der politischen Integration in Richtung eines europäischen Bundesstaates abzusichern, der von seiner raison d'être her einem Aufbegehren liberaler Kräfte wie der "Sparsamen Fünf" keinen Raum mehr ließe.

Selbst wenn man die coronabedingt ordnungspoltischen Aufweichungserscheinungen dieser Tage in Rechnung stellt, mutet es irritierend an, dass ein Freigeist vom Kaliber eines Udo Di Fabio seine Präferenzen für den von der Modern Money Theory (MMT) getragenen Wohlfahrtsstaat gegenüber der marktwirtschaftlichen Variante so freimütig bekundet: Warum nicht Spielräume für finanzpolitische Experimente à la Transferunion öffnen? Warum nicht alte Lehrmeinungen über Vorzüge der Sozialen Marktwirtschaft in Frage stellen? Warum nicht den Sprung in die "Faktizität" des europäischen Bundesstaates wagen? Warum, möchte man hinzufügen, die Chance verstreichen lassen, den von der MMT versprochenen Eintritt in das Schlaraffenland zu versäumen, wo unbegrenztes Schuldenmachen nicht als nur zeitweiliges Phänomen, sondern als konstitutives Kernelement künftiger Staatsfinanzierung winkt?

Man reibt sich die Augen: bei den beiden zur Auswahl stehenden ordnungspolitischen Varianten ausgerechnet auf jene zu setzen, die Europa durch ihr Versagen in seine prekäre Schieflage gebracht hat, zu Lasten jenes Modells, das über Jahrzehnte ihr kräftiger Motor war und dem nun per Transferleitung der Saft abgedreht werden soll? Angesichts der Aufgeschlossenheit für derartige Experimente wird deutlich, wie sehr das vom BVerfG ausgeleuchtete Unwesen des Ultra-Vires-Handelns der EZB mancherorts bereits zur Norm fortschrittlicher Geldpolitik erhoben wurde. Man kann nur hoffen, dass gegenüber den Ansätzen einer aggressiven US-amerikanischen Finanzhegemonie nach den Regeln der MMT jene Kräfte die Oberhand behalten, die es einen Irrtum nennen, dass die im Zuge von Nullzins und großvolumigen Anleihekäufen durch Zentralbanken galoppierende Staatsverschuldung als uneingeschränkt positiv zu beurteilen sei.

In diesem Sinne ist es ein gutes Zeichen, dass die "Sparsamen Fünf" beim Brüsseler Verhandlungsmarathon Durchhaltevermögen bewiesen und einer allzu stark ausufernden Begehrlichkeit der Südländer einen Riegel vorgeschoben haben. Deren Solidaritätsappell, man möge angesichts ihrer hohen Verschuldung Verständnis für ihre Forderung nach nicht rückzahlbaren Zuschüssen aufbringen, entbehrt nicht einer gewissen homerischen Schlitzohrigkeit. Denn mit dem ausgehandelten Volumen von 390 Mrd. Euro wird ja keine Verschuldung per se vermieden, sie wird nur qua EU-Haushalt den Nachbarn aufs Auge gedrückt, die dafür als heutige und künftige Steuerzahler aufzukommen haben.

Es ist daher nicht mehr als recht und billig, wenn Hollands Premier Mark Rutte und Österreichs Kanzler Sebastian Kurz darauf bestanden haben, dass, wenn schon Hilfsgelder dieser Dimension fließen, dies nur unter der Bedingung geschehen könne, die maroden Wirtschaftsstrukturen zu reformieren, die diese Hochverschuldung herbeigeführt haben. Ein dysfunktionales Wirtschaftsmodell, das dazu anreizt, dem Verteilen Vorrang vor dem Schaffen zu geben, das die Zukunftsvorsorge, ein Leitprinzip der Marktwirtschaft, mit Negativzinsen bestraft anstatt sie mit auskömmlichen Zinsen zu prämieren und das dem Voodoo-Glauben frönt, dass wirtschaftliches Wachstum mit dem Anschmeißen der Gelddruckmaschine zu erzeugen sei, dürfte kaum die ökonomischen Kräfte freisetzen, derer Europa bedarf, wenn es im globalen Wettbewerb mithalten will.

Wenn in den Leitmedien die Auffassung kursiert, dass sowohl die EZB die Verhältnismäßigkeit ihrer vertragswidrigen Geldpolitik nachgewiesen als auch der Europäische Rat mit seinem viertätigen Marathon die EU vor dem Scheitern bewahrt habe, mag das für eine Weile die Gemüter beruhigen. An der Diagnose, dass sich in beiden Vorgängen eine handfeste Verfassungs- und Orientierungskrise der Europäischen Union manifestiert, ändert das nichts. Wollen die Führer Europas angesichts dieser offenkundig prekären Lage nicht als Vogel-Strauß-Politiker in die Geschichte eingehen, müssen sie die Zeichen der Zeit und ihre Pflicht zum Handeln erkennen.

Die gegenwärtige Ratspräsidentschaft böte der deutschen Regierung die Chance, der dank des Karlsruher Urteils offenbar gewordenen "Verfassungskrise" mit Einberufung eines Europäischen Verfassungskonvents von unbegrenzter Dauer zu begegnen. An klugen Köpfen und guten Ideen hat es in Europa noch nie gefehlt. Um das europäische Haus für die heraufziehenden Herausforderungen wetterfest zu machen, bedarf es motivierter Bauleute, entscheidungsstarker Strukturen und eines Gemeinschaftsgeistes, der das Fairplay im Zusammenwirken aller fördert und der über allem die vereinbarten Regeln achtet. Die Rettung Europas wird vermutlich weniger mit dem nach einer Drohung klingenden Schlachtruf "What ever it takes" sondern eher unter einer Losung der Art gelingen, wie sie Ludwig Erhard seinem so erfolgreichen Wirtschaftsmodell mit auf den Weg gab und deren zeitlose Fortschrittlichkeit sich darin erweist, dass sie auch unserem ökologischen Zeitalter als Leitidee dienen könnte: "Maßhalten!".

 

Dieser Beitrag ist  in der Internet-Zeitung The European am 14. August 2020 unter dem Titel "Kann Ludwig Erhard Europa retten?" erschienen

 


 

 

 
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