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Einer, der uns fehlen wird - Zum Tod von Kurt Biedenkopf

Es waren zwei Politiker, die Deutschland in den beiden Jahrzehnten der 80er und 90er Jahre in besonderer Weise geprägt haben, die nicht nur der Jahrgang 1930 und der Geburtsort Ludwigshafen, sondern auch die politische Heimat, die CDU, verband. So sehr Helmut Kohl und Kurt Biedenkopf zu Beginn in der Gestaltung deutscher Politik vereint waren (der Größere holte den Kleineren als Generalsekretär an die Spitze der Partei), so unheilbar zerstritten standen sie sich in den Schicksalsjahren der Wendezeit vor, während und nach der Wiedervereinigung in persönlicher Gegnerschaft gegenüber. Beiden gemeinsam aber gebührt Respekt und Anerkennung für ihren unermüdlichen und beispiellosen Einsatz für unser Land: Helmut Kohl für sein mutiges Zupacken, als sich die Chance zur Einheit auftat, und Kurt Biedenkopf, der am Wiederaufbau des Freistaats Sachsen demonstrierte, wie erfolgreich eine wissensbasierte Transformationspolitik ein vom Sozialismus zerrüttetes Land voranzubringen vermag.

Der Wissenschaftler, Politiker, Institutsgründer, Rektor der Ruhruniversität Bochum und zeitweilige Industriemanager Kurt Biedenkopf brachte für seine Aufgabe, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Erneuerung Sachsens zu gestalten, die besten Voraussetzungen mit. In seinem mit Meinhard Miegel gegründeten Bonner Institut für Wirtschaft und Gesellschaft IWG, dessen Kuratorium ich angehörte, entwickelte er jene Zukunftsprojekte, die die gesellschaftspolitischen Diskussionen im Lande beherrschen sollten und die auch zu Topthemen der CDU-Wahlkämpfe wurden: für Generationengerechtigkeit und gegen überbordende Staatsverschuldung, die er „Ausbeutung der Enkel“ nannte, gleichberechtigte Stellung der Frau in Wirtschaft und Gesellschaft, Gestaltung des demographischen Wandels durch Reform der Altersversorgung, ökologische Ausrichtung der Sozialen Marktwirtschaft und ein Energiekonzept, das die ausgewogene Berücksichtigung von Versorgungssicherheit und Umweltschonung zum Ziel hatte. Auf dieser Linie sollte sich Biedenkopf Jahrzehnte später gegen den übereilten deutschen Ausstieg aus der Kernenergie aussprechen.

Er hatte seine Vorstellungen im 1985 erschienenen Buch „Die neue Sicht der Dinge – Plädoyer für eine freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ dargestellt, das leider nicht zur Pflichtlektüre vieler heute tätiger Politiker gehörte. Als Gastprofessor der Moskauer Universität lud er russische Wissenschaftler ins Institut nach Bonn ein, die uns über die unlösbaren Probleme der sozialistischen Planwirtschaft berichteten und die auf der Suche nach neuen Ansätzen waren. Für uns Zuhörer ein Zeichen des bevorstehenden Umbruchs im Verhältnis der östlichen zur westlichen Hemisphäre, der mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 tatsächlich Realität werden sollte.

Noch im Dezember 1989 begann Kurt Biedenkopf seine Netze auszuwerfen, um ein Team aus Fachleuten und Beamten für seine künftige Regierung und die personelle Ausstattung der Ministerien zusammenzustellen. Da ich für mein damaliges Unternehmen an der ersten Großinvestition in den neuen Bundesländern in Dresden weit vor der formellen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 im Einsatz war, erhielt ich den Ruf als Energiebeauftragter der Staatsregierung nach Sachsen zu kommen. Nachdem ich für das Projekt der Braunkohlesanierung in den Revieren Lausitz und Raum Leipzig nach drei Jahren bei leerer Landeskasse fünfzehn Milliarden D-Mark zusammengebracht hatte, fragte mich der Ministerpräsident, ob ich mich auch um das Finanzierungskonzept eines anderen Projektes, das nicht ganz so teuer sei, kümmern könnte. Auf diese Weise war ich zum Gründungsdirektor der 1994 gegründeten Stiftung Frauenkirche avanciert und durfte für den Wiederaufbau dieses weltweit berühmten Dresdner Wahrzeichens das Fundraisingkonzept erstellen.

Ich hatte bei Übernahme dieser außergewöhnlichen Aufgabe dem Ministerpräsidenten gegenüber die Bitte geäußert, mir ein angemessenes Büro zur Verfügung zu stellen. Bezeichnend für das zugleich geräuschlose und effiziente Management der Staatskanzlei unter „König Kurt“ war, dass ich nach kurzer Zeit über das schönste Büro meines Lebens verfügen konnte: ein Turmzimmer im südwestlichen Turm des damals bereits renovierten Teils des Residenzschlosses oberhalb des Grünen Gewölbes. Wenn jemals ein Mann für eine große Herausforderung zur rechten Zeit am rechten Ort war, ist dies Kurt Biedenkopf bei der Übernahme der Regierungsgeschäfte in Sachsen gewesen. Für die Aufgabe, den Freistaat aus den Zerrüttungen des Sozialismus in die Soziale Marktwirtschaft zu überführen, hätte es keinen Kundigeren und keinen Engagierteren geben können. Er war ein Reformer mit Weitsicht und Bodenhaftung, der sich gut auf die Mentalität der Sachsen einzustellen verstand. Sie haben es ihm mit absoluten Mehrheiten, 1994 waren es 58,1 Prozent, bei seinen drei Landtagswahlsiegen gedankt.

Nur einmal habe ich einen gewissen öffentlichen Protest ihm gegenüber wahrgenommen, als er bei seiner Vorstellung als Spitzenkandidat der CDU zur ersten Landtagswahl nach der Wende im Oktober 1990 dazu aufrief, die Landsleute wieder willkommen zu heißen, die unter den bedrängenden Verhältnissen der DDR in den Westen gegangen waren und sich nun anschickten zurückzukehren.

Ein ständiges Anliegen war es ihm, das Selbstwertgefühl seiner „Landeskinder“ zu stärken, indem er auf die brillanten Phasen der Landesgeschichte verwies, in denen Sachsen sowohl in Kunst und Kultur als auch in der industriellen Entwicklung eine führende Stellung eingenommen hatte. Sein strategischer Ansatz war, an diese Pionierrolle Sachsens anzuknüpfen und statt in traditionellen Strukturen zu verharren, die Umwandlung der überkommenen Industrie- in eine moderne Wissensgesellschaft zu forcieren. Auf diese Weise machte er Sachsen mit der Ansiedlung international renommierter Chiphersteller wie AMD, Infinion (Siemens) und vielen anderen zum führenden Standort der Halbleiterindustrie in Europa und zog massenhaft Startups der nachgelagerten Wertschöpfungsketten der IT-Wirtschaft aus aller Welt ins Land. Dieser Transformationsprozess ist auch Gegenstand meines in Dresden geschriebenen, 1996 im FAZ-Verlag erschienenen Buches „Die Informationsgesellschaft im Aufbruch“, zu dem Kurt Biedenkopf ein ausführliches Vorwort schrieb und das als erste deutschsprachige Studie die durch die digitale Revolution ausgelösten Umwälzungen in Wirtschaft und Gesellschaft zu deuten versuchte.

Kurt Biedenkopf ist auch nach dem Ausscheiden aus seinem Regierungsamt in Sachsen seinem Lebensthema, der deutschen Einheit, treu geblieben, nur dass es diesmal um die nicht minder wichtige „innere Einheit“ in den Köpfen der Menschen ging. Der von Altkanzler Helmut Schmidt und Freunden gegründeten, der Förderung des Zusammenwachsens der Menschen in Ost und West gewidmeten Deutschen Nationalstiftung hat Kurt Biedenkopf vorgestanden. Ich durfte ihm auch in dieser Aufgabe als helfende Hand zur Seite stehen.

 

Dieser Beitrag ist in gekürzter Fassung in der Preußischen Allgemeinen Zeitung Nr. 33 vom 30. August 2021 erschienen

 
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