MüMis Bloghouse

Der Streit um die EZB-Billionen ist nicht zu Ende

Es mag überraschen, wenn der Brexit als einer der Auslöser des Streits um die Geldpolitik der EZB und um das EuGH-Urteil des Bundesverfassungsgerichts betrachtet wird. Daher sei daran erinnert, dass bis zu dem mit dem Austritt der Briten verbundenen Einschnitt in die ordnungspolitische Architektur der EU die marktwirtschaftlich orientierten und auf fiskalische Disziplin setzenden Nordstaaten über ein 35 Prozent-Vetorecht gegen die Begehrlichkeiten der Südstaaten verfügten, die beim Umgang mit den Staatsfinanzen seit eh und je gerne mal über die Stränge schlugen. Der Clou dabei ist, dass die Brandmauer gegen überbordende Staatsverschuldung nicht allein mit dem Ausscheiden der Briten sondern zusätzlich mit einem Seitenwechsel der Deutschen eingerissen wurde.

Das an Geheimdiplomatie gemahnende Agieren der Bundesregierung in der Streitsache EuGH/BVerfG, wie es im ersten Satz des aufschlussreichen Beitrags von Thomas Thiel („Der Souverän aus dem Ostend“) beschrieben wird, verweist auf ihre im Diffusen verortete Position im Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland. Deutlicher wird der FDP-Bundestagsabgeordnete und Finanzexperte Otto Fricke, der der Bundesregierung in diesem Zusammenhang vorhält, sie ducke sich „notgedrungen“ weg und gehe dem Kernkonflikt mit Brüssel aus dem Wege, auch wenn sie die Karlsruher Richter formal gegen den Vorwurf verteidige, sie verstießen gegen „fundamentale Prinzipien des EU-Rechts“.

Fricke kritisiert, dass die Bundesregierung unterlassen habe, sich unmissverständlich an die Seite des Verfassungsgerichts zu stellen, das mit seinem Urteil vom 5. Mai 2020 nichts anderes getan habe als die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik vor dem vertragswidrigen Handeln einer europäischen Institution zu schützen. Schließlich geht es, worauf Thomas Thiel in seltener Deutlichkeit hinweist, um von der EZB neu geschöpftes Geld in Höhe mehrerer Billionen Euro, das aus den in gleicher Höhe aufgekauften Staatsschulden überschuldeter Mitglieder der Eurozone aus dem Hut gezaubert wurde und wird. Und von dem noch gar nicht klar ist, ob ihm jemals ein realer Gegenwert gegenüberstehen wird. Was demgegenüber feststeht ist, dass diese Geldschwemme vor allem Finanzmarktakteuren zufließt, die sich mit hohen Schulden finanzieren, sowie Aktien- und Immobilienbesitzern.

Dass sich die EU-Kommission mit ihrem Vertragsverletzungsverfahren parteiisch auf deren Seite schlägt, ist der eigentliche Skandal, um den es hier geht. Denn sie stellt sich damit zugleich gegen die Verlierer dieser absurden Geldpolitik, die Abermillonen meist mittelständischen Sparer, denen seit Jahren nicht nur finanzielle Einbußen in Höhe mehrerer hundert Milliarden Euro zugemutet werden, sondern die darüber hinaus erhebliche Abstriche in ihrer Altersversorgung hinnehmen müssen. Eine europäische Exekutive, die ihren Bürgern verweigert, sich auf dem Klagewege Recht zu verschaffen, wenn sie sich in ihren Grundrechten beschädigt fühlen, ist schlechterdings nicht ernst zu nehmen. Vor diesem Hintergrund sind Zweifel hinsichtlich der Einschätzung angesagt, wie in der FAZ vom 11.8.2021 ausgeführt, dass „die Karlsruher Beanstandungen des EZB-Handelns durch nachgereichte Erläuterungen und deren Billigung durch den Bundestag mittlerweile als erledigt gelten dürften“.

In der Kernfrage der Verhältnismäßigkeit der unorthodoxen geldpolitischen Maßnahmen der EZB zu deren gigantischen Kollateralschäden konnte tatsächlich keine Klärung herbeigeführt werden, weshalb eine Reihe von Folgeverfahren anhängig sind. Der neuen Bundesregierung dürften heiße Auseinandersetzungen in dieser Frage bevorstehen. Man wird vermutlich nicht umhinkommen, der dann Vorgängerregierung einen Kardinalfehler in der 2016 nicht gezogenen Option der Besetzung der EZB-Spitze mit Bundesbankpräsident Jens Weidmann anzukreiden.

Einem Mitglied der amtierenden Bundesregierung, dem für Geld-, Währungs- und Finanzpolitik zuständigen Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz muss aber im Hinblick auf die Septemberwahl schon heute diese Frage gestellt werden: warum er ohne Rücksicht auf Millionen Kleinsparer eine Geldpolitik der EZB unterstützt, die zur wohl größten Umverteilung von unten nach oben in der jungen Geschichte der EU führte, obwohl er im Wahlprogramm seiner Partei das genaue Gegenteil als Ziel propagiert.

 

Der Beitrag ist in gekürzter Fassung am 28.8.2021 als Leserbrief in der FAZ erschienen

 
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