MüMis Bloghouse

Geldpolitik contra Sozialausgleich

„Whatever it takes“ war der Kampfruf, mit dem Mario Draghi 2016 eine Wende in der Geldpolitik der höchsten europäischen Währungsbehörde EZB einleitete. Hörte sich diese Parole schon damals nicht gerade als Chancen und Risiken abwägende und Stabilität fördernde politische Zielsetzung an, ist ihr Ergebnis weiter von einer Konsolidierung der europäischen Finanzmärkte entfernt, als dies vor fünf Jahren der Fall war. Das liegt nicht zuletzt an der Doppelzüngigkeit, mit der diese als Geldpolitik getarnte Hyperintervention in die Märkte betrieben wurde: Offiziell mit der Gefahr einer Deflation rechtfertigt, die bis zum Erreichen einer zweiprozentigen Inflationsrate andauern sollte, tatsächlich aber auf das Ziel gerichtet, eine markante Reduzierung der Zinslasten der überschuldeten Südstaaten der Eurozone zu erreichen.

Nichts offenbart die mangelnde Seriosität der zur Zeit praktizierten EZB-Politik mehr, als dass die Geldschwemme, mit der bisher mehrere Billionen Euro in die vor allem südeuropäischen Märkte gepumpt wurden, stoisch weiterbetrieben wird, nachdem die Inflationsrate der Eurozone im August 2021 nicht nur das Zweiprozentziel sondern die Dreiprozentmarke erreichte und kundige Bundesbanker eine Steigerung in Richtung fünf Prozent im Herbst für nicht ausgeschlossen halten. Zwar hat der EZB-Rat in seiner letzten Sitzung Anfang September eine Verringerung der Anleihekäufe in Aussicht gestellt, diese dürfte aber in der Höhe eher kosmetischer Natur sein und am Generalziel, die Verschuldungsbereitschaft der Südländer gegenüber dem Sparwillen der Nordstaaten der Eurozone zu bevorteilen, nichts ändern.

Man fühlt sich an Christian Andersens Märchen von „Des Kaisers neue Kleider“ erinnert, wenn man jene zwei Sätze liest, mit denen FAZ-Leserin Ernestine Buerstedde das irrlichternde Spiel der EZB entlarvend zusammenfasst, das dem europäischen Bürger seit Jahren vorgeführt wird: „Es fließt Unterstützung von Nord nach Süd. Wenn der Süden sich am Kapitalmarkt versorgen müsste, wären die Zinsen höher, wahrscheinlich so hoch, dass gewaltige Insolvenzen drohten.“

Dass eine derartige verteilungspolitische Zielsetzung nicht zu den Aufgaben einer Notenbank gehört, haben Hans-Werner Sinn und Fachkollegen sowie ganze Bataillone von ehemaligen Bundesbankern seit Jahren wiederholt angemahnt. Eine Gruppe von fünf Professoren, zu denen Gregor Kirchhof und Andreas Rödder gehören, hat dieser Tage dokumentiert, dass die EZB systematisch gegen ein konstitutives Element der Wirtschaftsverfassung der EU verstößt, indem sie dem Artikel 123 des EU-Vertrages, dem Verbot monetärer Staatsfinanzierung, keine Beachtung schenkt. Die Europäische Zentralbank kann so eigenmächtig ihr Mandat verletzend agieren, weil sie als oberste europäische Währungsbehörde bisher keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegt.

Der Versuch des Bundesverfassungsgerichts, mit seinem berühmten „ultra vires“-Urteil vom 5. Mai 2020 andeutungsweise eine derartige Kontrollfunktion auszuüben, indem nach der Verhältnismäßigkeit der unmäßigen Geldpolitik zu den durch sie ausgelösten Kollateralschäden gefragt wurde, konterte die EU-Kommission mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland. Dabei haben bereits 2019 acht ehemalige europäische Notenbankgouverneure in einem Memorandum nachgewiesen, dass die beispiellose Intervention der EZB in die europäischen Geldkreisläufe als marktwidriger und enteignungsgleicher Eingriff in die Einkommensverteilung unter den EU-Bürgern anzusehen ist.

Es ist nicht allein der gigantische Geldmengenzuwachs als solcher, der über Staatspapierkäufe erzeugt wurde und den Geldmärkten Null- und Minuszinsen bescherte, der die nicht hinnehmbaren Einkommenseinbußen der weniger begüterten Teile der Bevölkerung Europas zur Folge hat. Die in die EZB-Bilanzen genommenen Schuldpapiere der überschuldeten Staaten in schwindelerregenden Höhen von inzwischen 3,7 Billionen Euro liegen dort nicht einfach so herum, sondern die europäische Notenbank hat die Bürger der Eurozone in dieser Größenordnung ungefragt in die Haftung für Kreditausfälle genommen, mit Deutschland als dem bei weitem größten Anteilseigner und damit größtem Gläubiger der EZB. Es ist nicht bekannt, dass sich der für Währungs-, Geld- und Finanzpolitik zuständige deutsche Finanzminister Olaf Scholz zu diesem gewichtigen Vorgang seines Geschäftsbereichs jemals öffentlich geäußert hätte. Kein Wort hat er über die kalte Enteignung von Millionen Kleinsparern durch Zinsentzug in Höhe mehrerer hundert Milliarden Euro verloren, die darüber hinaus seit Jahren empfindliche Abschläge in ihrer Altersversorgung hinnehmen mussten und müssen.

So hat die von Olaf Scholz mitgetragene Nullzinspolitik der EZB zu einer beispiellosen Umverteilung „von unten nach oben“ geführt, indem auf der Gegenseite der Wechsel der Großanleger von den Banken an die Börse und in die Immobilienmärkte die Einkommens- und Vermögensschere zwischen Arm und Reich in Europa markant weiter öffnete: Neben dem Hineinpumpen von Billionen an EZB-Geld in die Finanzmärkte, Kurssprünge an den Aktienmärkten und Feuerwerk bei den Immobilienpreisen auf der einen, Zinsverluste der Kleinsparer, steigende Mieten und eine sich hochschaukelnde Inflation auf den Verbrauchermärkten auf der anderen Seite. Es bleibt das Geheimnis des deutschen Finanzministers und Kanzlerkandidaten der SPD, wie die auf europäischer Ebene mitgetragene Geldpolitik des sozialen Ungleichgewichts mit der im Wahlprogramm seiner Partei genau entgegengesetzten Zielsetzung auf einen Nenner zu bringen ist.

Fair Play in Wahlkampfzeiten erfordert an dieser Stelle aber auch den Hinweis, dass es die Bundeskanzlerin Angela Merkel 2016 in der Hand gehabt hätte, es zu dieser Zuspitzung auf den europäischen Finanzmärkten mit ihren fatalen sozialen Folgen gar nicht erst kommen zu lassen, wenn sie die ihr damals gegebene Option der Besetzung der EZB-Spitze mit Bundesbankchef Jens Weidmann gezogen hätte. Er wäre mindestens von den als „Falken“ bezeichneten Kollegen im EZB-Rat, den Vertretern Österreichs, der Niederlande, Belgiens und Lettlands, darin bestärkt worden, eine wesentliche Quelle der Überschuldung, das „Über-die-Verhältnisse-Leben“ der Südeuropäer nicht länger mit so starkem Ankauf ihrer Schuldpapiere zu honorieren.

Denn warum sollten, wie ihnen dies zur Zeit zugemutet wird, der deutsche Busfahrer und die holländische Krankenschwester für Schulden haften, deren Ursache maßgeblich in deutlich komfortableren Sozialstandards der Südländer als jenen in den eigenen Ländern liegt: mit Rentenhöhen, die eher 80 Prozent als 50 Prozent des Arbeitseinkommens erreichen und mit einem Renteneintrittsalter das eher bei 60 Jahren als bei den der demographischen Entwicklung geschuldeten 70 Jahren liegt.

Dass man über diesen Zusammenhang unterschiedlicher Sozialstandards in Europa und geldpolitischer Ansätze der EZB in der Presse so wenig erfährt, ist gerade in Wahlkampfzeiten genauso bedenklich wie die mangelnde Berichterstattung darüber, dass es mit Friedrich Merz wenigstens einen deutschen Spitzenpolitiker gibt, der in aller Öffentlichkeit, zuletzt auf dem Wirtschaftstag der Union am 2. September 2021 in Berlin erklärt hat, dass er die Geld- und Währungspolitik der EZB zu einem Schwerpunktthema seines wirtschafts- und finanzpolitischen Programms zu machen beabsichtigt, sofern er in dieser Funktion einer zukünftigen Bundesregierung angehört.

 
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