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Das Geheimnis der heroischen Selbstbehauptung der Ukraine - Sieben Kriege in hundert Jahren

Man sagt, Geschichte wiederhole sich nicht. Aber es gibt Konstellationen, die ähnlich gelagert zu gleichen Ergebnissen führen können. So hat der russisch-ukrainische Krieg von 2022 durchaus das Zeug zu einem Verlauf, den ganz ähnlich ein Waffengang vor hundert Jahren genommen hatte: jener polnisch-russische Krieg von 1920/21, bei dem es ebenfalls um die Ukraine ging. In beiden Konflikten standen und stehen sich die Kontrahenten in einem David-Goliath-Verhältnis gegenüber. Und beide Male trumpft David mit überraschender Kampfeskraft auf: 1921 besiegen die Polen im „Wunder an der Weichsel“ die noch in die Nachwirren der Oktoberrevolution verstrickten Russen, 2022 leisten die Ukrainer den Russen einen derart heroischen Widerstand, dass diese ihre Pläne eines raschen Durchmarsches aufgeben mussten.

Ist es das Aufbegehren des Schwächeren aber Mutigeren gegen den Mächtigeren, das den hundert Jahre zurückliegenden Krieg mit dem aktuellen verbindet, so unterscheiden sich beide darin, dass die Ukraine heute aktiv handelnde Kriegspartei ist, während sie 1920/21 Streitobjekt war, um das Polen und Russen miteinander in Schlachten rangen, an die keine der beiden Seiten gern erinnert werden mag, weshalb sie auch als der „vergessene Krieg“ in die Geschichte eingegangen sind.

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 waren für Polen zwei Jahrhunderte der Fremdherrschaft und der Teilungen zu Ende gegangen. Bei allem Stolz, mit dem die Gründung der Republik am 11. November 1918 gefeiert wurde, war der dadurch erweckte nationale Überschwang auf höhere Ziele gerichtet. Gegenüber allen Nachbarn im Westen, Süden und Osten zeichnete sich die junge Republik unter ihrem Staatschef General Pilsudski durch aggressives Verhalten aus, was besonders die Deutschen und Tschechoslowaken, vor allem aber die Russen zu spüren bekamen, die sich nach dem Sturz des Zarenreiches auf dem Weg zur Sowjetunion befanden, die erst 1922 ihre Gründung erleben sollte. Der überraschende Sieg der Polen über die Russen, der im „Rigaer Frieden“ besiegelt wurde, war auch einem Geheimabkommen mit Frankreich zu verdanken, das Generalstabsplanung und Waffenlieferungen zum Inhalt hatte. Der damals 30jährige Major de Gaulle und der Rote Armee General Stalin standen sich im Kampf an der Weichsel gegenüber.

Russland hatte im Friedensvertrag Gebietsabtretungen zu leisten, die das gerade neu erstandene Polen noch einmal um 300 Kilometer nach Osten erweiterte, wobei es sich um die Westukraine, Westweißrussland und große Teile Litauens handelte. Das Konfliktpotenzial, das mit dem Rigaer Frieden für spätere Auseinandersetzungen angelegt war, trug vor allem einen Namen: Stalin. Er war in Moskau für die erste spektakuläre Niederlage der Roten Armee nach der Revolution verantwortlich gemacht worden, was Rachegelüste auslöste, die im späteren Verlauf Entwicklungen von welthistorischer Brisanz zur Folge haben sollten und die vor allem die Ukraine immer wieder in schicksalshafte Mitleidenschaft ziehen sollten.

Als erster Racheakt richtete sich Stalins Schlag gegen die sich der Kollektivierung der Landwirtschaft widerspenstig entgegenstellenden Ostukrainer. Im grausamen Holodomor von 1932 werden vier bis fünf Millionen von ihnen dem Hungertod preisgegeben. Als Akt Nummer zwei nutzte Stalin, wie im Hitler-Stalin-Pakt verabredet, Hitlers Überfall auf Polen im September 1939, um sich jene Gebiete zurückzuholen, für deren Verlust er 1921 verantwortlich gemacht worden war: die Westukraine, Westweißrussland und große Teile Litauens. Racheakt Nummer drei galt indessen nicht der Ukraine sondern als ewiger Denkzettel für den Landraub von 1921 der polnischen Elite. 25.000 Offiziere, Akademiker und Großgrundbesitzer wurden 1940 sowohl in den Wäldern des polnischen Katyn als auch in der Ukraine und in Weißrussland auf Stalins Befehl erschossen.

War die Ukraine im Zweiten Weltkrieg gleich zu Beginn zum Opfer der Sowjetunion geworden, sollte die Kriegsfurie in seinem weiteren Verlauf noch zweimal unter wechselnder Herrschaft über sie hinwegziehen. Beim Russlandfeldzug von 1941 waren die Deutschen zunächst noch als Befreier von sowjetischer Gewaltherrschaft begrüßt worden, das Massaker an den ukrainischen Juden in den Schluchten von Babyn Jar belehrte sie aber bald eines Schlechteren.

Die Ukraine sollte zu einem der meist umkämpften und seine Bewohner am brutalsten in Mitleidenschaft ziehenden Territorien werden, auf denen der Zweite Weltkrieg wütete, weshalb sie in der US-amerikanischen Historiografie zu den exemplarischen „Bloodlands“ wurden. Die russische Gegenoffensive, die die deutsche Wehrmacht nach Westen zurücktrieb und 1944 die Ukraine und Polen im Verein mit sämtlichen osteuropäischen Staaten dem sowjetrussischen Imperium für fast ein halbes Jahrhundert unterwarf, sollte zum dritten Akt der Weltkriegs- und Folgetragödie werden. Was Wunder, dass der durch dieses unablässige Stahlbad an Grausamkeiten und Leiden abgehärtete Menschenschlag jenen extremen Durchhaltewillen im immerwährenden Überlebenskampf entwickelte, der heute in der gesamten westlichen Welt mit Verwunderung registriert und mit Bewunderung begleitet wird.

Dass siebzig Jahre nach der Rückeroberung durch die Rote Armee und ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer, der den Zerfall der Sowjetunion zur Folge hatte, die Zeiten des überholt geglaubten Krieges mit der Annexion der Krim durch Russland 2014 nach Europa zurückgekehrt und acht Jahre später durch eine weitergefasste militärische Aggression noch dunkler werden würden, hat nicht nur die kriegsgewohnten Ukrainer in einen Schockzustand versetzt. Die mittelbar mitbetroffene Europäische Union und die westliche Staatengemeinschaft, militärisch im NATO-Bündnis vereint, sinnen seither auf einen Modus Vivendi, der den Weg zurück zu einem geregelten Miteinander in Europa wieder öffnen könnte.

Er wird nach menschlichem Ermessen und unter Berücksichtigung der geopolitischen „fundamentals“ am Ende des Tages nur dort zu finden sein, wo die existenziell grundlegenden Interessen der Konfliktparteien auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind: sowohl die nationale Integrität der Ukraine durch internationale Garantien zu sichern als auch Russland jenen Cordon sanitaire zuzugestehen, der seinem Großmachtanspruch Genüge tut. Den Lösungsansatz dazu hat der frühere US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger bereits 2014 in der „Washington Post“ formuliert: „Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren“.

 

Dieser Beitrag ist unter dem Titel "Das Geheimnis einer Selbstbehauptung" in der Preußischen Allgemeinen Zeitung, Nr. 22 v. 3. Juni 2022 erschienen

 

 

 

 

 

 
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