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Ukraine, die große Unbekannte

„Was wissen wir über die Ukraine? Wenig“ war am 1. April 2015 über den zweitgrößten Flächenstaat Europas in der FAZ zu lesen. Wie sehr diese Aussage vor allem auf die Historiographie der letzten zweihundert Jahre osteuropäischer Geschichte zutrifft, in der das Schicksal der Ukraine weit stärker mit den tragischen Verläufen in der Region verwoben war als heute allgemein bekannt ist, ließ selbst die um Aufklärung bemühte tour d’horizon von Regina Mönch in der FAZ nur erahnen.

War der historische Brückenschlag vom Majdan-Aufruhr, vom Ostukrainekonflikt und von der Krim-Annexion unserer Tage über die doppelseitigen Unterdrückungen durch die östlichen wie westlichen Nachbarn Russland, Polen und Deutschland einschließlich des Stalinschen Genozids Holodomor bis zurück zum Wiener Kongress 1815 faszinierend genug, hat er dennoch wichtige Phasen des hier relevanten historischen Geschehens ausgeblendet. Sie betreffen in erster Linie Vorgänge in den beiden Zwischenkriegsdezennien 1919 bis 1939, die auch in anderen Bezügen auf wundersame Weise aus zeitgeschichtlichen Betrachtungen ausgeklammert bleiben. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass der vor Jahren gestartete Versuch einer Verlagsgruppe scheiterte, europäische Zeitschriften der Zwischenkriegsjahrgänge im Nachdruck in kommentierter Form herauszubringen.

In der 2014 von Philipp Blom erschienenen Monographie „Die zerrissenen Jahre 1918-1938“ ist zwar ausführlich und eindrucksvoll der sowjetrussische Holodomor von 1932/33 dokumentiert, dem fast die gesamte kleinbäuerliche Bevölkerung der Ukraine zum Opfer fiel,  nicht aber die Aggressionen und Kriege, die Polen seit seinem Wiedererstehen als souveräner Staat 1919 bis zum Kriegsausbruch 1939 gegen alle seine Nachbarn im Osten (Russland), Süden (Tschechoslowakei) und im Westen (Deutschland) entfachte oder führte und wovon auch die Ukraine maßgeblich betroffen war.

Stefan Scheil hat in seinem historischen Abriss „Polen 1939 – Kriegskalkül, Vorbereitung, Vollzug“ eine übersichtliche Dokumentation der polnischen Völkerrechtsverletzungen gegenüber seinen Nachbarn und den nach 1919 in seinem neu erstandenen Staatenverbund lebenden Minderheiten vorgelegt. Felix Ackermann hat in der FAZ vom 4. April 2015 am Beispiel des 105jährigen weißrussischen Mathematikers Boris Kit über die diskriminierende Minderheitenpolitik zu Zeiten der polnischen Okkupation seiner Heimat in den 30er Jahren berichtet. Nachdem er wegen seiner patriotischen Gesinnung 1931 im berüchtigten Wilnaer Lukischki-Gefängnis eingesessen hatte, wurde er als Junglehrer 1935 Zeuge, wie das belarussisch-sprachige Lyzeum aufgelöst und dem polnisch-sprachigen Gymnasium angegliedert wurde. In polnisch beherrschten Gebieten durfte es keine Minderheitenschulen mehr geben, die in deren Sprachen unterrichteten.

Den vom Territorialgewinn her größten Krieg der Zwischenkriegsepoche, der in zeitgeschichtlichen Betrachtungen weitgehender Verschwiegenheit anheimgefallen ist, führte Polen unter Pilsudski 1920/21 gegen das noch in die Nachwehen der Oktoberrevolution von 1917 verstrickte Russland. Im Vertrag zu Riga 1921 musste Russland der Abtretung der Westukraine, Westweißrusslands und Teilen Litauens zustimmen, die seit dem Wiener Kongress 1815 zum Zarenreich gehört hatten. Die von Polen annektierten Gebiete firmierten fortan als „Ostpolen“, bis sie im gemeinsam von Hitler und Stalin 1939 begonnenen Zweiten Weltkrieg zunächst der Sowjetunion wieder einverleibt und ab 1941 Teil des deutschen Generalgouvernements wurden.

Für Viele mag die Aufdeckung des Umstands, dass die zeitweilig als Ostpolen maskierte Ukraine Teil des Zankapfels war, der zum Zweiten Weltkrieg führte, überraschend sein. Sie verweist zugleich darauf, dass die sogenannte „Westverschiebung“ Polens als Folge dieses Krieges in das Reich der Legende gehört. Denn statt der behaupteten „Verschiebung“ nach Westen erfolgte tatsächlich und ausgehend von den Grenzen von 1919 eine das polnische Territorium erheblich ausweitende Annexion deutschen Staatsgebiets. Was die Siegermächte allerdings nicht davon abhielt, den polnischen „Verlust“ der kurzzeitig erbeuteten Westukraine und benachbarter Gebiete an Russland als Kompensationsgrund für die Deutschland auferlegte Abtretung seiner Provinzen Pommern, Ost- und Westpreußen sowie Schlesien zu betrachten – samt der ethnischen Säuberung im Zuge der Vertreibung von über 14 Millionen Ostdeutschen aus ihrer Heimat, von denen dabei über zwei Millionen ums Leben kamen. Kurz gesagt: die den Polen auferlegte Wiederherausgabe ihrer 18 Jahre gehaltenen Ukrainebeute an die Russen mussten im Endeffekt die Ostdeutschen mit dem Verlust ihrer jahrhundertealten Heimatgebiete bezahlen.  

Was das Bezahlen betrifft, hat auch Polen für den Raub der Westukraine und der benachbarten Gebiete einen kräftigen Blutzoll an Russland entrichten müssen. Die Ermordung von 25.000 bis 30.000 Mitgliedern des polnischen Offizierscorps und der akademischen Elite des Landes acht Monate nach dem russischen Einmarsch 1939 im Osten durch den NKWD in den Wäldern von Katyn lastet bis heute schwer auf der polnischen Seele, wie die jüngsten Gedenkveranstaltungen in Polen gezeigt haben.

Wegen der von Leid und Tragik geprägten Erfahrungen der Menschen, die in der Pufferzone zwischen Russland und dem Westen Europas leben, gibt es unter den Mächten der Region bewusste Zögerlichkeiten, es auf den berüchtigten ehemaligen Schlachtfeldern der „Bloodlands“ noch einmal zu einem großen Eklat kommen zu lassen. Zu ausgeprägt ist auf aufgeklärter westlicher Seite das Grundverständnis für jene Konstante russischen Verhaltens, nach der es zur raison d’être der eurasischen Vormacht gehört, empfindlich zu reagieren, sobald sich an ihren Rändern geostrategische Haarrisse abzeichnen. Dass dies im Übrigen zum klassischen Standardverhalten von Großmächten gehört, haben auch die USA 1962 während der Kubakrise unter Beweis gestellt.

Daher ist die russische Annexion der Krim von der Mehrheit der EU-Staaten bei aller Ablehnung des Völkerrechtsbruchs unausgesprochen als eine Art Akt nationaler Interessenwahrung „unter besonderen Umständen“ eingeordnet worden. Altkanzler Schröder hat auf diesen Aspekt hingewiesen, als er in seinem Oster-Interview im SPIEGEL (14/2015) gegenüber manchen Heißspornen im Westen für emotionale Abrüstung plädierte: Wenn man einem der großen Mitspieler der europäischen Geschichte mit einem Militärbündnis, das noch Kalten Kriegstagen entstammt, auf die Pelle rückt, darf man sich über entsprechende Reaktionen nicht wundern.

Es ist diese Perspektive, die den Betroffenen in West und Ost das Heft des Deeskalationshandelns wieder in die Hand zu geben und damit der Lösung des Ukrainekonflikts näherzubringen in der Lage wäre. So sehr die Mittellage der Ukraine zwischen den Mächten im Osten und Westen in der Vergangenheit ihr Schicksal bestimmte, könnte sie ihr bei kluger Politik in der Zukunft zur Chance gereichen. Darin vergleichbar der heutigen Position Deutschlands, das die Einbettung in seine west-östliche Nachbarschaft dem Austausch und der Offenheit zu friedlichem Miteinander mit beiden Seiten verdankt.

 
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