700 Jahre Tangstedt - Ein Dorf mit bewegter Historie

Wolfgang Müller-Michaelis
 
Erst 150 Jahre ist es her, seit Tangstedt ein deutsches Dorf wurde. Als Folge des Preußisch-Österreichischen Krieges gegen Dänemark im Jahre 1864 fiel Schleswig-Holstein damals an Preußen. Weithin unbekannt dürfte auch sein, dass unser Dorf Ende des 17. Jahrhunderts, als es aus der Abhängigkeit des Amtes Tremsbüttel gelöst wurde, doppelt so groß war wie heute. Dabei ist sein tatsächliches Alter im Dunstkreis einer frühzeitlichen Siedlungsgeschichte verborgen, weisen doch etliche Grabhügel in der Gemarkung und eine Vielzahl archäologischer Funde darauf hin, dass dieser Landstrich bereits weit vor Beginn unserer christlichen Zeitrechnung besiedelt war. Ein Streifzug durch die Geschichte der 700jährigen Wiederkehr der erstmaligen urkundlichen Erwähnung Tangstedts im Jahre 1309 bringt eine Reihe interessanter Befunde ans Licht, die den heutigen Bewohnern der Gemeinde in dieser Zusammenschau kaum gegenwärtig sein dürften.
 
Was die frühzeitliche Besiedlung betrifft, treten bei herbstlicher Bestellung der dem Tangstedter Gut zugehörigen Felder noch heute mit dem Pflug dem Untergrund des Ackerbodens entrissene Zeugnisse einer versunkenen Zeit zu Tage: Mahlsteine, die in großer Zahl und unterschiedlicher Größe auf großbetriebliche Verarbeitung von Wildgetreide wie wilder Gerste und wildem Weizen schließen lassen. Der Verfasser hat sich bei seinen Erkundungen auf dem Hochplateau des dem Eiskellerberg benachbarten Feldkamms oft gefragt, ob es nicht an der Zeit wäre, mit anderen interessierten Bürgern einen Tangstedter Geschichtsverein zu gründen, um dieser älteren aber auch jüngeren Historie der Gemeinde etwas mehr auf die Spur zu kommen.
 
Nachdem Tangstedt 1693, als seine eigentliche Geschichte mit eigener Amtsverwaltung begann, die Dörfer Glashütte, Duvenstedt, Lemsahl und Mellingstedt im Osten sowie Harksheide im Westen umfasste, sind ihm im Zuge der ersten großen Kreisreform 200 Jahre später (1888) eine Reihe weiterer benachbarter Dörfer zugeschlagen worden. Es erreichte eine flächenmäßige Ausdehnung, die bei etwa hälftiger Einwohnerzahl (3400) mit 85 km² mehr als doppelt so groß wie heute und damit sogar größer war als das durch Einverleibung ehemaliger Tangstedter Gebiete inzwischen zur Großstadt aufgestiegene Norderstedt. Glashütte, das einst Tangstedterheide hieß, war noch bis 1969 Teil des Amtsbezirks Tangstedt.
 
Trotz seiner beachtlichen Ausdehnung und geographisch begünstigten Lage ist Tangstedt während seiner langen Geschichte durchgehend Spielball der Interessen „äußerer Mächte“ geblieben. Daran hat sich bis heute nichts geändert, obwohl die kommunalrechtlichen Entwicklungen der Neuzeit manche Möglichkeiten zu mehr Eigenständigkeit in der Gestaltung seiner Geschicke geboten hätten. Nachdem Gut und Dorf nahezu 400 Jahre dem Amt Tremsbüttel unterstanden, stieg es 1693 zu eigener Amtsverwaltung auf, was für mehr als 300 Jahre so bleiben sollte. Mit Wirkung vom 1. Januar 2008 entschied sich die Tangstedter Gemeindeversammlung im Vollzug einer umstrittenen Kreisreform zur verwaltungsmäßigen Eingliederung in das Amt Itzstedt.
 
Für viele Bürger Tangstedts ist bis heute schwer nachvollziehbar, dass die eigene Kommunalverwaltung aus einem erst vor Jahren errichteten Rathaus in ein entlegenes Amt umziehen musste, wo erst bauliche Investitionen zu tätigen waren, um die zugewanderten Amtskollegen unterbringen zu können – absurderweise zu Kosten, die fast der vom Kreis ausgelobten „Hochzeitsprämie“ entsprachen. Immerhin ist für die heutigen Tangstedter gegenüber ihren Vorfahren vor 300 Jahren ein kleiner Fortschritt zu verzeichnen: die Entfernung zum Amt Tremsbüttel, die 20 km betrug und per Pferd und Wagen eine Stunde Wegzeit erforderte, hat sich zum heute zuständigen Amt Itzstedt um die Hälfte auf 10 km, das heißt per Auto auf einen zeitlichen Aufwand von einer Viertelstunde verkürzt.
 
Dass die Gemeinde im 17. und 18. Jahrhundert kirchlich zu Bergstedt gehörte und der sonntägliche Kirchgang für Jung und Alt einem „Vorläufer“ des heute praktizierten Joggens gleichgekommen sein mag, gibt einige Aufschlüsse über sowohl Verkehrsverhältnisse als auch religiöse Bindungen zu damaliger Zeit. Wobei über die Zeiten hinweg und auch durch die 1896 im eigenen Dorf errichtete Kirche „Zum guten Hirten“ die Zahl der Kirchenbesucher kaum üppiger geworden ist. Zur Entwicklung des Verkehrs ist anzumerken, dass es dort, wo heute für verkehrsberuhigte Zonen Gebotsschilder mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km aufgestellt sind, vor hundert Jahren, als auch in Tangstedt die ersten Kraftfahrzeuge auftauchten, Warnschilder mit der Aufschrift „Automobile 15 km die Stunde!“ standen.
 
Der „europäische“ Akzent, der Tangstedts Geschichte durch seine wechselnde Zugehörigkeit zu Dänemark, Preußen und Deutschland auszeichnet, ist unseren Vorfahren nicht immer zum Guten ausgeschlagen. So ist die Gutsuntertänigkeit, die mit harten Hof- und Frondiensten der Einwohner verbunden war, und die im Zuge der Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurde, in Tangstedt aufgrund des hier weiter geltenden dänischen Landrechts noch fast ein dreiviertel Jahrhundert in Kraft geblieben. Erst zwölf Jahre, nachdem Schleswig-Holstein preußisch geworden war, wurden die absolutistische Ordnung der Kanzlei- und Adelsgüter 1876 aufgelöst und die bis dahin gutspflichtigen Untertanen zu freien Bürgern ihrer Gemeinde. Inwieweit das Leben unter der dänischen Krone die hiesige Bevölkerung vor den Verwüstungen und Schrecken der Belagerungen während und nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) bewahrt haben mag, ist aus den überlieferten Dokumenten nicht klar ersichtlich. Ein Honigschlecken war das Leben für die Tangstedter aber sicher nicht, auch wenn die Zugehörigkeit zur dänischen Geschichte in der Rückschau betrachtet durchaus ein „gewisses Etwas“ hatte und aus der Sicht der Herrscher im Kopenhagener Schloss unser heute so unscheinbar anmutendes Dorf mit seinem einst weithin berühmten Gut als südlichster Vorposten des skandinavischen Großreichs gegolten haben mag.
 
Bei allen Wechselfällen der Geschichte sind Fixpunkte der Entwicklung des Ortes seine geographische Lage und sein landschaftlicher Zuschnitt geblieben. Eingebettet in Wälder, ausgedehnte Heideflächen und weite Moorgebiete, die seit dem frühen Mittelalter den Torfabbau zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor der Region werden ließen, entbehrte das Land wegen seiner minderwertigen Bodenqualität der Voraussetzungen für eine extensive Landwirtschaft. Kleintierhaltung mit Schafzucht, später auch Schweinemast, für die eine Abfallwirtschaft durch frühmorgendliches Einsammeln städtischer Abfälle im nahen Hamburg etabliert wurde, die zeitweilig zur Blüte gelangte Glasbläserei, die durch den Zuzug damals zu Schweden gehörender Wismarer Fachleute ermöglicht wurde, sowie der Ausbau des Tangstedter Guts zu einem der Milchwirtschaft dienenden Meierhof waren neben Torfwirtschaft und kargem Ackerbau mit vornehmlich Buchweizen und Roggen die Lebensgrundlagen der Bevölkerung. Erst mit dem Austorfen der Moorgebiete hat sich der inzwischen vorherrschende Eindruck eines idyllischen Lebensraumes „im Grünen“ entwickelt, der die Gemeinde Tangstedt, umgeben vom jungen Alsterlauf in Norden, Tangstedter Forst im Westen, Rader Bruch und Duvenstedter Brook im Osten sowie von den Hamburger Walddörfern im Süden, zu einem Naturjuwel des an landschaftlicher Schönheit gewiss nicht armen Holsteinlandes hat werden lassen.
 
Den Mittelpunkt der historischen Entwicklung der Gemeinde bildet die Tangstedter Gutsgeschichte. Sie bestimmte zugleich über die Jahrhunderte hinweg das Wohl und Wehe der sozialen Verhältnisse vor Ort, die wie für so viele Landgemeinden in den vordemokratischen Epochen durch Abhängigkeit von feudaler Herrschaft geprägt waren. So gehören soziale Unruhen zum prägenden Kontinuum der Tangstedter Geschichte. Die in den Annalen höfischer Berichterstattung abwertend anmutende Beschreibung der eingesessenen Bevölkerung als besonders widerspenstige und renitente Querulanten dürfte ihr aus heutiger Sicht zur Ehre gereichen, ein schon von den Anfängen her eher freiheitlich und demokratisch gesinnter Menschenschlag gewesen zu sein.
 
Drei aufständische Bewegungen aus dem 16., 18. und 19. Jahrhundert mögen dies beispielhaft belegen. Als sich 1594 die Hufner aus Tangstedt, Wilstedt, Duvenstedt, Lemsahl und Mellingstedt wegen verschärfter Frondienste beim im Schloss Gottorp residierenden und die dänische Krone vertretenden Herzog von Sachsen-Lauenburg beschwerten, ließ dieser 32 Bauern aus diesen Dörfern „schmerzlich und ganz hart so fest auf Wagenräder schnüren, dass das Blut aus Händen und Füßen quoll und ließ sie in dem Zustand über einen halben Tag liegen“. Im Jahre 1788 kommt es auf dem damaligen Kanzleigut erneut zu Unruhen. Alle 24 Hufner des Tangstedter Gutsbezirks treten in den Streik, weil ihr dreitägig abzuleistender Ernteeinsatz von donnerstags auf dienstags vorverlegt werden soll. Der Hintergrund dieser Maßnahme ist „kirchenpolitischer Natur“. Weil die Bauern am Schluss ihres Einsatzes mit Bier entlohnt wurden, waren sie bei der alten Zeitregelung für den sonntäglichen Kirchgang nach Bergstedt noch nicht wieder „auf den Beinen“. Nachdem der Gutsherr von Holmer statt dessen Tagelöhner zum Ernten auf seine Felder schickt und von den Hufnern Erstattung der an die Erntehelfer gezahlten Löhne einfordert, verweigern die Bauern die Zahlung. Daraufhin pfänden der Gerichtsdiener und der Gutsjäger die Säumigen, aber die Wilstedter holen sich ihre Pfandsachen gewaltsam zurück. In seiner Not fordert von Holmer beim dänischen König ein neunköpfiges Militärkommando an, das die Widerspenstigen schließlich zwingt, nicht nur die Ausgaben für die Tagelöhner sondern auch für die Gerichtskosten und das Militäraufgebot zu begleichen. Außerdem werden sie aufs Gut einbestellt und erhalten auf dem Hof, je nach „Verstocktheit“ sechs bis 15 Stockschläge aufs Gesäß.
 
Gut ein halbes Jahrhundert später konnten Auseinandersetzungen um verschärfte Hand- und Spanndienste für den neuen Gutsherrn G. H. Reimers aus Bahrenfeld durch ein Bündnis der Tangstedter Bauern mit dem Kleinadel beigelegt werden. Der nach den Napoleonischen Kriegen einen Hufenhof im damals zum Gutsbezirk gehörenden Duvenstedt bewirtschaftende Rittmeister Philipp Heinrich v. Bühler trat an die Spitze der Aufständischen und drehte diesmal den Spieß um. Er erschien mit einer Abordnung beim König in Kopenhagen und erreichte, dass die dem althergebrachten Lehnsrecht entstammenden Verpflichtungen aufgehoben wurden.
 
Die bewegte Geschichte des Tangstedter Gutes ist aus hiesigen Quellen leider nur bruchstückhaft überliefert, da die alten Gutsbücher mit der Zerstörung des 1650 erbauten Herrenhauses 300 Jahre später im Jahre 1947 ein Raub der Flammen wurden. Künftige Forscher dürften für weitere Erkundungen aber vermutlich in dänischen Archiven fündig werden. Denn der dänische Hof pflegte mit seinen Abgesandten einen regelmäßigen Verkehr mit dem zu seiner Zeit vielgerühmten Gut, das schon durch seine attraktive Architektur und seine Nähe zur benachbarten Metropole Hamburg immer wieder herrschaftliche Besucher anzog. Der einst in Rahlstedt lebende Detlev v. Liliencron, der hier oft Station machte, hat dem Tangstedter Gut in seinem Roman „Leben und Lüge“ ein immerwährendes Andenken bewahrt: „Ein altes weißes Schloss mit dicken Mauern und zwei mehreckigen efeuüberzogenen Halbtürmen, rechts und links vom Eingang, guckte ihm mit seiner Schneehaube finster und mürrisch entgegen.“
 
Viele prominente Persönlichkeiten haben Tangstedt im Laufe seiner Geschichte die Ehre gegeben. Kaiserin Auguste Victoria, Gattin von Wilhelm II, die aus dem Hause Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg stammte, schenkte der Kirche „Zum guten Hirten“ zur Weihe im Jahre 1896 eine Bibel, der es aus Anlass des 700jährigen Dorfjubiläums gut angestanden hätte, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden. Selbst „Kaiser“ Franz Beckenbauer war vor 30 Jahren zu Gast, als er den Wilstedter Sportverein besuchte und anschließend „in der guten Stube“ in Rieblings Tangstedter Mühle einkehrte, nicht zu vergessen Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt mit Frau Loki, neben vielen Größen aus Funk und Fernsehen wie Freddy Quinn oder James Last, der hier sogar mit seiner ganzen Band einen runden Geburtstag feierte. Der berühmteste Tangstedtbesucher aller Zeiten aber dürfte der große dänische König Christian IV gewesen sein, der vielfältige Spuren im Lande hinterlassen hat. Auch ihn hat Detlev v. Liliencron mit engem Tangstedter Bezug verewigt, indem er die stimmungsvollen Gelage am riesigen Eichentisch im Trinkgewölbe des Gutshauses beschrieb, an dem der fürstliche Zecher seine Kavaliere zu Boden zu trinken pflegte:
 
„Was dieser König auch gefehlt hat im Trinken und in seiner Leidenschaft für hübsche Weiber jedes Standes: das Volk liebte ihn, der viele große Eigenschaften zeigte, bis zur Stunde seines Todes. Er war und ist der größte Nationalheld Dänemarks.“
 
Geht man davon aus, dass der Dichter in seiner Begeisterung für den dem weiblichen Geschlecht so sehr zugetanen König nicht übertrieben hat, ist es keineswegs ausgeschlossen, dass in den Adern der einen oder anderen alteingesessenen Familie des Dorfes bis auf den heutigen Tag ungeahntes königlich-dänisches Blut pulsiert
 
Mit freundlicher Genehmigung des Heimatbundes Norderstedt e.V., in dessen Jahrbuch 2009 der Beitrag zuerst erschienen ist.

 
-->