Beitrag 05_21

Ein Frieden, der Unheil schuf
Anmerkungen zum 100. Jahrestag des Rigaer Frieden von 1921

von Wolfgang Müller-Michaelis

Die Wiedererrichtung Polens am 11. November 1918 (Nationalfeiertag), der Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919, der Rigaer Friedensvertrag vom 18. März 1921, die Hinrichtung Marschall Michail Tuchatschewskis auf Veranlassung Stalins am 12. Juni 1937 und der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 markieren historische Stationen zwischen dem Ende des Ersten und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die allein in ihrer Aufzählung den „roten Faden“ der Handlungsabläufe in einer dramatischen Phase der Geschichte des 20. Jahrhunderts sichtbar werden lassen.

Dem Rigaer Friedensvertrag, der den polnisch-russischen Krieg von 1920/21 beendete, kommt in dieser Reihe historischer Daten eine besondere weichenstellende Bedeutung zu, zumal die Russland auferlegten Gebietsabtretungen brisantes Konfliktpotenzial für künftige Waffengänge schufen. Dass dieser historiographisch bedeutende Aspekt in den Gedenkbeiträgen der deutschen Leitmedien zum hundertjährigen Vertragsjubiläum keinerlei Erwähnung fand, erklärt sich aus der von ihnen offensichtlich übernommenen einseitig-polnischen Sichtweise, die für das volle Verständnis des damaligen Geschehens eher hinderlich ist.

So irritiert die allgemeine Akzeptanz des polnischen Begehrens nach „neuen Grenzen“, nachdem das Land doch nach zwei Jahrhunderten der Fremdherrschaft und der Teilungen von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs als unabhängiger Staat wiedererrichtet worden war. Warum sollte man angesichts der heute bekannten fatalen Folgen für das aggressive Verhalten der Polen in der Zwischenkriegszeit gegenüber allen Nachbarn im Osten, Süden und Westen Verständnis aufbringen, wenn doch die mit den Pariser Verträgen erfolgte Grenzziehung im Osten – der Curzon-Linie – entlang des ethnisch von Polen besiedelten Territoriums und in Abgrenzung zu Litauen, Weißrussland und der Ukraine erfolgte, auch wenn diese Länder im 18. Jahrhundert dem „riesigen polnisch-litauischen Königreich“ angehört hatten?

Während aus der Zwischenkriegszeit der Waffengang gegen Russland noch am ehesten erinnert wird, sind blutige Kampfhandlungen gegen die damalige Tschechoslowakei sowie gewalttätige ethnische Säuberungen von deutschen Bevölkerungsteilen in den Polen zugeschlagenen Siedlungsgebieten weitgehend in Vergessenheit geraten. Ralf Loock hat in der Märkischen Oderzeitung über die polnischen Aufstände in Oberschlesien im Zusammenhang mit der vom Völkerbund dekretierten Volksabstimmung, zwei Tage nach dem Rigaer Frieden am 20. März 1921, berichtet. Obwohl mit 59,6 Prozent der Stimmen für Deutschland votiert wurde (Polen kam auf 40,4 Prozent), erhielt Polen aufgrund seines aggressiven Verhaltens am Ende doch das oberschlesische Industrierevier.

Mit Befremden nimmt man den Hinweis des Warschau-Korrespondenten der FAZ, Gerhard Gnauck, auf die angeblichen Ziele der Polen für ihren Krieg gegen Russland zur Kenntnis, „einem künftigen Partner Ukraine den Rücken zu stärken“. Die als „Partner“ auserwählte Ukraine nimmt es den Polen bis heute übel, neben Teilen Litauens und West-Weißrusslands als Kriegsbeute und in „Ostpolen“ umbenannt im Rigaer Vertrag vom russischen in den polnischen Hoheitsbereich übernommen worden zu sein. Die neue polnisch-russische Grenze verlief, wie korrekt berichtet wurde, „weit östlich des geschlossenen polnischen Siedlungsgebietes“. Man hätte durchaus erwähnen können, dass es 300 Kilometer waren, um die der polnische Staat nach Osten vorrückte. Denn allein die Größenordnung des polnischen Landgewinns wirft die Frage auf, wie es überhaupt zu einer derartigen militärischen Meisterleistung des polnischen David gegenüber dem russischen Goliath kommen konnte, auch wenn man in Rechnung stellen muss, dass die Russen noch immer in den Nachwehen der Oktoberrevolution von 1917 verstrickt waren und die Sowjetunion erst 1922 ihren Gründungsakt erlebte.

Eine reale Auflösung des „Wunders an der Weichsel“ dürfte, zumindest zu Teilen, in jenem polnisch-französischen Geheimpakt zu finden sein, über den der frühere FAZ-Korrespondent und spätere Intendant des Deutschlandfunks Dettmar Cramer in seinen Erinnerungen berichtet. Nicht nur wurden die Polen in Warschau vom französischen Generalstab beraten, es wurden auch französische Truppen bereitgestellt und Kriegsmaterial geliefert. Charles de Gaulle, damals als Major, und Josef Stalin, General der Roten Armee, standen sich im Kampf vor Warschau gegenüber.

Wenn Gerhard Gnauck zu der Einschätzung gelangt, dass „der Rigaer Vertrag für Polen die Verhältnisse an seiner Ostgrenze stabilisiert“ habe, übergeht er den Sprengstoff, den dieser Friedensschluss enthielt und der das künftige Agieren der sowjetrussischen Führung gegenüber Polen von Stund an bestimmte. Denn nachdem der Vertrag im März 1921 unterschrieben war, begannen bereits im September/Oktober desselben Jahres in Berlin deutsch-sowjetische Geheimgespräche, in welchen sich die Sowjetunion deutsche militärische Hilfe bei der künftigen Revision des Rigaer Friedens sichern wollte. Insbesondere einer sann auf Rache, der als Heerführer der Roten Armee für den Fehlschlag vor Warschau verantwortlich gemacht wurde: Josef Stalin.

In Stufe 1 traf es, wie Stephan Lehnstaedt in seinem Buch „Der vergessene Sieg“ berichtet, den Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte Marschall Michail Tuchatschewski, der trotz seines Misserfolgs in Moskau gefeiert wurde. Im „Großen Terror“ von 1937 ließ Stalin ihn dafür als einen der Ersten „über die Klinge springen“. Stufe 2 war der Hitler-Stalin-Pakt, in dessen Vollzug die Russen am 17. September 1939 im Osten (wie die Deutschen, den Krieg beginnend, am 1. September im Westen) in Polen einmarschierten, um sich genau jene Gebiete bis zur Curzon-Linien zurückzuholen, die sie 1921 in Riga hatten abtreten müssen. Stufe 3 war schließlich der grausame „ewige Denkzettel“, den Stalin 1940 der polnischen Elite, 22.000 Offizieren und Akademikern in den Wäldern von Katyn für den im Rigaer Frieden besiegelten Landraub sowie für das bis heute nicht aufgeklärte Verschwinden einer großen Zahl sowjetischer Kriegsgefangener verpasste. Wie Dettmar Cramer recherchierte, hat der einstige Botschafter der Sowjetunion in Deutschland, Valentin Falin, in seinen 1993 in München erschienenen „Politischen Erinnerungen“ an diesen „Weißen Flecken“ des russisch-polnischen Verhältnisses erinnert: „Dieser Flecken müsste ebenfalls beseitigt werden. Zehntausende waren im Nirgendwo untergegangen.“

Eine Quintessenz des polnisch-russischen Krieges, die das damals unbeteiligte Deutschland betrifft, sollte der historischen Vollständigkeit halber nicht unerwähnt bleiben: dass es die von der polnischen Geschichtspolitik behauptete „Westverschiebung“ Polens, die später als Kompensationsgrund für die Abtretung der deutschen Ostprovinzen Pommern, Ostpreußen, Westpreußen und Schlesien herangezogen wurde, gar nicht gegeben hat.

Polen ist verglichen mit dem Territorialbestand seiner Wiedererstehung 1918 mit der Curzon-Linie im Osten nach Kriegsende 1945 um die nach den Potsdamer Verträgen unter polnische Verwaltung gestellten deutschen Ostprovinzen gewachsen, die einem Viertel des damaligen deutschen Reichsgebiets entsprachen. Einher mit diesem Deutschland auferlegten territorialen Aderlass ging eine der massivsten Menschenrechtsverletzungen der Neueren Geschichte: die ethnische Säuberung der deutschen Ostprovinzen in der Größenordnung von 14 Millionen Menschen (was in etwa der Bevölkerung ganz Skandinaviens entsprach), von denen während des oft grausamen Vertreibungsgeschehens über zwei Millionen Deutsche zu Tode kamen. Die Bemühungen der Vertretungen der Pommern, der West- und Ostpreußen, der Schlesier, auch der Sudetendeutschen und übrigen landsmannschaftlichen Gruppierungen aus den östlichen Vertreibungsgebieten, mit einer "Gedenkstätte gegen Vertreibungen" ein Zeichen der Erinnerung und der Mahnung zu setzen, sind vor allem von polnischer Seite immer wieder blockiert worden.

Angesichts des unermesslichen Leids und der überaus großen Opferzahlen, die Polen während des Zweiten Weltkriegs zu ertragen hatte, verbietet es sich, das Leid des Einen mit dem des Anderen aufrechnen zu wollen. Worum es für die Nachkommen beider Seiten, die diese schrecklichste aller Zeiten überstanden haben, nur gehen kann, ist, daraus in Demut und gegenseitigem Aufeinanderzugehen die richtigen Lehren zu ziehen. Das haben die deutschen Heimatvertriebenen mit ihrer frühen Verzichtserklärung auf Rache und Vergeltung von 1950 und die polnischen Bischöfe mit ihrer Botschaft vom 18. November 1965 "Wir vergeben und bitten um Vergebung" in aller Würde getan.

Wer an diesen friedensstiftenden Weichenstellungen für das inzwischen mit viel Mut und Kraft auf den Weg gebrachte europäische Einigungswerk rüttelt, indem er allein die heutige Generation der Deutschen mit Reparationsleistungen in Sippenhaft nehmen will - für ein historisches Geschehen von vor 80 bis 100 Jahren, in das auch seine Vorfahren schicksalhaft verstrickt waren, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.

 

Dieser Beitrag ist in Kurzfassung als "Brief an die Herausgeber" in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 30. März 2021 und in der hier wiedergegebenen Langfassung in der "Preußischen Allgemeinen Zeitung" Nr. 16 vom 23. April 2021 erschienen.

 
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