Anne will, aber kann sie auch?

Missglückter Start der Christiansen-Nachfolge-Talkrunde

Wolfgang Müller-Michaelis

Die hohen Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Hatte man gehofft, dass sich das Sendeformat der ARD-Premium-Politschau am Sonntagabend von der Krampf-, Murks- & Co-Linie der Christiansen-Talkrunde lösen würde, sah man sich enttäuscht. War Ahnungslosigkeit bei den inhaltlichen Beiträgen der prominenten Gäste, so war Peinlichkeit in der Inszenierung Trumpf.

Die Bautzener Akademikerin, die jeden Tag für 5 Euro Stundenlohn nach Görlitz zur Arbeit fährt, war als Opfer der herrschenden Verhältnisse zwar treffend gewählt, sie aber als einzig kompetente Zeugin der verkorksten Reformpolitik aus der Runde zu verbannen und an den Rand des Geschehens zu platzieren, war bei aller Symbolik an Taktlosigkeit kaum zu überbieten.

Die Proporz-Repräsentanten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens Kurt Beck und Jürgen Rüttgers, die als Ministerpräsidenten und Träger der Regierungskoalition für die Zustände in Deutschland mit verantwortlich sind, spielten demgegenüber ihre Rollen so stilsicher, als übten sie bereits ihre Pensionärstournee à la Blüm/Sodann. Das einzig Konstruktive, das ihnen zu ihren Klageliedern über die Ergebnisse ihrer eigenen Politik einfiel, war ihre unisono verkündete Absicht „Da müssen wir jetzt ran“.

Ein Vertreter der Opposition, der schon aus dramaturgischen Gründe die hier fällige Frage hätte stellen müssen, was sie denn bisher davon abgehalten habe, „da ranzugehen“, fehlte leider ebenso wie ein sachverständiger Arbeitsmarktexperte, der den Stilblütensalat wenigstens an der einen oder anderen Stelle hätte zerpflücken können.

Zum Beispiel hätte er das hilflose Herumgeeiere um das Thema Mindestlohn auf den Punkt bringen können, dass die Vorstellung, mit verordneten Mindestlöhnen das Lohnniveau am Arbeitsmarkt anzuheben, der Illusion entspricht, dass es der Thermostat sei, der die Wärme ins Zimmer bringt. Dass man statt dessen die Heizung mit entsprechender Energie anschmeißen bzw. die Wirtschaft mit sachgerechter Politik ankurbeln muss, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen – auf diesen Einfall wartete man, wie schon bei Sabine Christiansen so auch bei Anne Will, vergebens.

Die sympathische Moderatorin war zwar bemüht, ihren Gesprächspartnern die eine oder andere Idee zu entlocken, aber mit einem zielführenden Beitrag zur Sache konnte während der sechzig Sendeminuten keiner der Teilnehmer aufwarten. Während Bischöfin Käßmann das traditionell verkrampfte Verhältnis der Kirche zur Wirtschaft bestätigte, indem sie sich zum Zugeständnis herabließ, dass es durchaus einige Unternehmen gäbe, die sich auch um die Interessen ihrer Mitarbeiter kümmerten, verpasste Telekom-Chef Rene Obermann mehrfach die Chance, etwas Sachkunde in diese Dokumentation von Orientierungslosigkeit zu bringen.

Als ihm die Moderatorin vorwarf, die Telekom hätte seit der Privatisierung 12.000 Menschen dem Schicksal der Arbeitslosigkeit preisgegeben, fiel dem Unternehmer nicht ein (den beiden Ministerpräsidenten übrigens auch nicht), damit zu kontern, dass im Zuge der Zerschlagung des Post- und Fernsprechermonopols ein liberalisierter Telefonmarkt mit einer bunten Fülle neuer Dienstleistungen entstanden ist, der mit tiefgestaffelten Wertschöpfungsketten ein Vielfaches der von der Telekom aufgegebenen Arbeitsplätze geschaffen hat, verbunden mit einem breiten Modernisierungsschub für die gesamte Volkswirtschaft und erheblich gesunkenen Kosten für Private und Wirtschaft.

Aber derartige Erklärungsversuche zur Sache interessierten an diesem ersten Sonntagabend nach Christiansen nicht. Die spannende Frage hieß: Wird Anne Will es packen? Das Zeug dazu hätte sie sicher, aber das der Sendung verordnete Sparkonzept sollte reiflich überdacht werden. Der weitgehende Verzicht sowohl auf fachkundige Talkgäste wie auf eine angemessene Dramaturgie wird den Erwartungen eines Sonntagabend-Publikums kaum gerecht und bringt auch die exzellenten Fähigkeiten von Deutschlands First TV-Lady nur schwer zur Entfaltung.

September 2007

 
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