Das Regiment der Schildbürger

Wolfgang Müller-Michaelis lehrt an der Universität Lüneburg Medien- und Öffentlichkeitsarbeit

Will man das Märchen von den einfältigen Schildbürgern auf moderne Weise nacherzählen, gibt es eine einfache Methode. Man muß nur über Vorgänge berichten, wie sie sich im heutigen Deutschland abspielen. Gerade wollte ich ein Telegramm aufgeben, der Adressat wohnt in der Reichskanzlerstraße. "Oh", sagte die Dame von der Telekom, "diese Straße dürfte es doch gar nicht mehr geben!" Ich klärte sie auf, daß Deutschland keine Erfindung Adolf Hitlers sei, sondern daß es sich beim Reich um eine ziemlich lange Geschichte handelt. Sie bedankte sich, davon hatte sie noch nie etwas gehört.

Derweil wird im Rundfunk die monatliche Bekanntgabe der Arbeitslosenzahlen angekündigt. Obwohl alle, die sich mit dem Arbeitsmarkt auskennen, wissen, daß rund ein Drittel der registrierten Arbeitslosen gar keine Arbeit suchen (statt dessen, finanziell gesichert, Anwartschaften bis zum Rentenbeginn wahrnehmen müssen); daß an Arbeit kein Mangel herrscht, zumal es mehr Arbeitsplätze in der Schattenwirtschaft als registrierte Arbeitslose gibt (500 Milliarden Mark werden hierzulande in der Schattenwirtschaft jedes Jahr "am Fiskus vorbei" verdient); daß Hunderttausende von freien Arbeitsplätzen nicht besetzt werden können, weil sich niemand für sie findet; daß sich das Kernproblem auf einige hunderttausend Langzeitarbeitslose und Jugendliche ohne Hauptschulabschluß komprimiert.

Ist es im Wissen um diese Tatbestände eine Schildbürgerei oder nicht, wenn jeden Monat erneut das Verkündigungsritual der "großen Zahl" aufgeführt wird?

Man sollte nun annehmen, daß diejenigen besonderer Förderung gewiß sein können, die sich des Kernbereichs der Arbeitslosigkeit, der Langzeitarbeitslosen und Jugendlichen ohne Hauptschulabschluß annehmen, um deren Chancen am Arbeitsmarkt zu verbessern. Nicht so im modernen Schilda. Die Volkshochschulen von Hamburg und Schleswig-Holstein, die sich dieser Aufgabe seit Jahren mit Erfolg annehmen, indem sie Lehrgänge für den Haupt- und Realschulabschluß anbieten, werden, anstatt für ihre Initiative Unterstützung zu finden, in ihrer finanziellen Ausstattung beschnitten.

Der von Bundespräsident Herzog geforderte "Ruck", der durch unsere Gesellschaft gehen müsse, um uns für die moderne Wissensgesellschaft fit zu machen, hat sich bei den rot-grünen Regierungen in Kiel und Hamburg in Entscheidungen niedergeschlagen, die ohnehin bescheidenen Landeszuschüsse für die VHS-Arbeit weiter zu kürzen. Otto Normalverbraucher, der es nicht wahrhaben will, in einem von Schildbürgern regierten Land zu leben, reibt sich immer öfter verwundert die Augen.

Nötigung, ein strafrechtliches Vergehen, wird selbstverständlich geahndet, wenn der kleine Mann auf der Straße betroffen ist. Was aber ist, wenn der Staat den Bürger nötigt, wenn dieser zusehen muß, wie sich Fremde mittels krimineller Handlungen (Vernichten von Ausweispapieren) den Zugang zu hiesigen Sozialleistungen erschleichen und selbst dann nicht wieder des Landes verwiesen werden, wenn sie zusätzlicher Verbrechen überführt werden? Ist es verwunderlich, daß das Vertrauen des Bürgers in die ihn Regierenden angesichts derartiger Zumutungen schwindet?

Ist es richtig und fair, den Ärger über die Wahlerfolge der DVU bei deren Wählern abzuladen, wenn die Gründe für ihr Wahlverhalten so offen zutage liegen? Wird nicht das Rechtsempfinden der Bürger auf eine Dauerprobe gestellt, wenn die für das Funktionieren des Rechtsstaates entwickelte Rechtswegekultur mit ausufernder Beanspruchung durch das Scheinasylantenproblem immer mehr lahmgelegt wird? Von gedankenloser Einfalt der Schildbürger zu berechnender Rechtsbeugung als gesellschaftlicher Norm ist es nur ein kurzer Weg, wenn der Staat mit schlechtem Beispiel vorangeht. Ungemütlich kann es werden, wenn auf diese Weise das Rechtsbewußtsein einer ständigen Erosion ausgesetzt wird. Dann kann schon mal unscheinbare Schildbürgerei in handfeste "Castor-Mentalität" umschlagen, mit der vorgegeben wird, Gefährdungen der Gesellschaft dadurch bekämpfen zu müssen, daß man sie absichtlich und mit brutaler Gewalt herbeizuführen trachtet. Mit Blick auf das Deutschland des Jahres 1998 kann ein verbreiteter Meinungstrend als "hohe Schule" der Schildbürgerei gelten: daß uns jene "fortschrittlichen" Kräfte, denen wir schon heute manchen Sand im Getriebe verdanken, bei der Bundestagswahl im September die Lösung unserer Probleme bringen werden.

 
    

abgedruckt in DIE WELT, 22. Mai 1998

 
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