Hat die Politische Ökonomie die Krise auf dem Gewissen? Kapitalismuskritik im Spannungsfeld von Globalisierung und digitaler Revolution

Wolfgang Müller-Michaelis

Hat sich die Systemkritik zunächst an den im Zuge der internationalen Finanzkrise vermeintlich zutage getretenen Funktionsmängeln des Kapitalismus festgemacht, ist einem weitergehenden Kritikansatz, der die etablierte wissenschaftliche Fundierung der Politischen Ökonomie ins Visier nimmt und der deren Lehrbücher als Drehbücher der Krise sieht (FAZ v. 8. April 2009) bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden.

Markt oder Marktlehre auf den Prüfstand?

Bei allem Meinungsstreit über die Gründe der Misere dürfte Einhelligkeit in der Wahrnehmung einer allgemeinen Orientierungslosigkeit bestehen, die im öffentlichen Diskurs bereits vor Ausbruch der globalen Finanzkrise im Unbehagen über das nationale Reformversagen Ausdruck gefunden hatte. Der Rückschluss auf mangelndes Rüstzeug aus der Werkstatt der Ökonomischen Theorie lag umso näher, als das babylonische Sprachgewirr der Stellungnahmen aus Politik und Wissenschaft kaum zur Klärung der Dinge beizutragen vermochte. Beim Ruf nach einem Paradigmenwechsel dürfte sich allerdings ein größerer Zirkelschlag um das Problem als notwendig erweisen, als er in bisherigen Annäherungsversuchen in Ansatz gebracht wurde. Denn was genau ist mit dem Aufwerfen der Systemfrage gemeint? Die Ablehnung einer Wirtschaftsverfassung Erhardscher Prägung, die dem Wirtschaftswunder der 50er und 60er Jahre zugrunde lag, sicher nicht. Sind es statt dessen die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, wie sie heutzutage an unseren Universitäten gelehrt werden oder eher das System angewandter Wirtschaftspolitik, das seit der Schröderschen Agenda 2010 die politischen Verhältnisse hierzulande maßgeblich konstituiert, die es auf den Prüfstand zu stellen gilt? Im Verhältnis von ordoliberaler Lehre zur Sozialen Marktwirtschaft waren noch große gemeinsame Schnittmengen nachweisbar, so dass beim „Rheinischen Modell“ eine gelungene Symbiose aus reiner Lehre und angewandter Wissenschaft zu konstatieren war.

Anders verhält es sich mit dem Vorwurf des Marktversagens gegen das weitergefasste kapitalistische System des Westens, bei dem unklar bleibt, was eigentlich zur Rechenschaft gezogen werden soll: der Markt, die Lehre oder die Politik. So wenig man beide Modelle über einen Kamm scheren kann, so sehr verbietet es sich, über das durch die Jahrhunderte in unterschiedlichen Kulturen bewährte Marktsystem als solches den Stab zu brechen. Von daher reduziert sich die Systemfrage auf das Aufdecken von Funktionsmängeln, die zwar in beiden Fällen, gerade auch im bürokratisch verformten Rheinischen Modell Berliner Prägung offensichtlich sind, aber mangels differenzierter Betrachtung der eigentliche Grund dafür sein dürften, dass sich die Marktwirtschaft als gesellschaftliches Ordnungsprinzip per se dem Verdikt ausgesetzt sieht, gescheitert zu sein. Denn ist nicht der marktradikale Ansatz mit seiner Indifferenz gegenüber sozialer Fürsorge für die im Leistungswettbewerb Zukurzgekommenen seit je Gegenstand europäischer, vor allem deutscher Infragestellung des Amerikanischen Modells gewesen?

Was ist es aber im Kern, das in den Ruf nach einer Generalremedur offenbar auch das sozialstaatlich veredelte Rheinische Modell einzubeziehen trachtet? Unbestritten ist, dass es an ähnlich heftigen Beschwerden wie der westliche Kapitalismus im Ganzen leidet. Aber diese sind anderer, bei genauem Hinsehen entgegengesetzter Natur zu jenen, die uns die Finanzkrise von jenseits des Atlantik in das europäische Haus „herüberflorierte“, wie es Martin Walser (FAZ v. 6. Mai 2009) auszudrücken beliebte. Hat dort das Fehlen einer sozialen Komponente das Marktsystem in einen „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) entgleiten lassen, wurde hier eine in die andere Richtung weisende sozialstaatliche Überfrachtung zum Ferment wachsender Lähmung der Marktkräfte. Das würde bedeuten, dass das partielle Marktversagen des gegenwärtig praktizierten deutschen Modells in letzter Konsequenz aus einem Zuviel dessen resultiert, was die Krise der marktradikalen Variante durch ein Zuwenig ausgelöst hat.

Die Ironie dieser systemkritischen Doppeldiagnose dürfte auf ein für beide Seiten übereinstimmendes Therapieziel hinauslaufen: Dort auf ein „Change towards“, hier auf ein „Zurück zu Erhard“. Wobei es für Deutschland und die EU darum ginge, aus der zu einer Sozialbürokratie deformierten Unordnung der Verhältnisse jenes Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft wieder freizulegen, das nicht nur uns und unseren europäischen Nachbarn sondern auch den zu respektablen Konkurrenten aufgestiegenen Ländern Südostasiens den im Weltmaßstab höchsten wirtschaftlichen Wohlstand beschert hat, der jemals in der Geschichte erreicht wurde. Im Ergebnis (Friedhelm Loh, FAZ v. 20. April 2009) stünde demnach nicht der Kapitalismus auf dem Prüfstand, sondern die Art, wie wir ihn für unsere Zwecke nutzen.

Geht es um Werte oder um Zahlen?

Bezeichnend für den bisherigen Verlauf der Systemdiskussion ist seine Verzahnung sowohl mit einer allgemeinen Wertedebatte als auch mit einem bereits seit längerem wogenden Lehrmeinungsstreit zwischen der mathematischen und der ordnungspolitischen Ökonomik. Es ist diese aus mehreren Diskussionsebenen gespeiste Heftigkeit und Tiefe der Auseinandersetzung, die über den Kapitalismus hinaus auch dessen theoretischen Unterbau unversehens in die Nähe einer Sinnkrise gestürzt hat. Schon 1985 hatte Kurt Biedenkopf („Die neue Sicht der Dinge“) die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit der These belebt, dass der Triumph der Kopernikanischen Wende nicht nur das Weltverständnis der Neuzeit in Abkehr von der Mythologie des Mittelalters begründet sondern damit zugleich die Weichen für den Siegeszug der Naturwissenschaften über die Geistes- und Sozialwissenschaften gestellt habe. Fortan sei als Prädikatsausweis von exakter Wissenschaft nur dem zugebilligt worden, was als Ergebnis der Erforschung der Naturkräfte berechenbar und in mathematischen Formeln ausdrückbar ist.

Könnte in der Konsequenz einer derart „frühen Fehlsteuerung“ die Krisenhaftigkeit der heutigen Welt auch darauf zurückzuführen sein, dass man am Ausgang des Mittelalters angesichts der Erschütterung über den wissenschaftlichen Nachweis, dass die Erde die Sonne umkreist, die Erforschung der zumindest ebenso wichtigen Frage aus dem Auge verloren hatte, wie die Menschen ihren geistigen Austausch und ihre sozialen Verhältnisse so zu gestalten hatten, dass sie unter Nutzung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen Errungenschaften im Ergebnis konfliktfreier miteinander hätten leben können, als sie dies in den zurückliegenden vier Jahrhunderten zuwege brachten?

Zu den Merkwürdigkeiten der aktuellen Debatte gehört, dass mit dem Erfahrungswissen eines erfolgreich angewandten Konvergenzmodells, wie es der von Ludwig Erhard in politische Praxis umgesetzte Ordoliberalismus war, der aus der mathematisch fundierten Ökonometrik einen gleichermaßen komplementären Nutzen zog wie aus der Stringenz ordnungspolitischer Leitsätze der Freiburger Schule, ein Methodenstreit ausgefochten wird, der an religiöse Glaubenskämpfe erinnert. Forderte der Physiker Nassim Nicholas Taleb auf der zur Durchleuchtung des Weltfinanzdebakels einberufenen Konferenz im kanadischen Waterloo die Schließung aller wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten, beabsichtigen eine Reihe deutscher Universitäten im Übergang auf die Bachelor-Studiengänge die empirische Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomie aus den wirtschaftswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen zu streichen. Dass im Umfeld einer bildungspolitischen Reformdebatte, die die Einführung des Fachs „Wirtschaft“ in den Bildungskanon allgemeinbildender Schulen fordert, das Herzstück der modernen Volkswirtschaftslehre, die Lehre von der Wirtschaftspolitik, aus den Lehrplänen von Universitäten verbannt werden soll, kommt einer Schildbürgerei gleich, die zum zeitgeistigen Abgleiten dieser Republik in einen Mainstream der Beliebigkeiten passt.

Wenn jemals Ordnungsökonomen mit ihrem Wissen um die komplexen und komplizierten Kreislaufzusammenhänge der Wirtschaft als Ratgeber der Politik gebraucht wurden, dann ist es in der heutigen Krisensituation der Fall. Schließlich hat nicht das Versagen der Ordnungsökonomik sondern der massive Verstoß handelnder Akteure gegen altbewährte Regeln des Wirtschaftens die Krise herbeigeführt. Viktor Vanberg, der Leiter des Freiburger Walter Eucken Instituts hat nachgewiesen (FAZ v. 14. April 2009), dass es ein Streit um des Kaisers Bart ist, wessen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der Vorrang gebührt, der mathematischen oder der Ordnungsökonomik. Weder reiche der „Quantifizierungsehrgeiz“ der Ökonometriker aus, „die Verfügbarkeit verwertbarer Daten zum Kompass dafür zu machen, welche Zusammenhänge man untersucht“, noch vermögen die Ordnungspolitiker belastbare Aussagen zu den Auswirkungen von der Politik erwogener Eingriffe zu treffen, ohne sie mit Modellrechnungen abgesichert zu haben. Nur im sich ergänzenden Zusammenspiel beider Ansätze sei der erwünschte Erkenntnisgewinn zu erzielen. Was die auf Zahlen und statistische Massen angewiesenen Ökonometriker und die auf Handlungsweisen und Wertorientierungen der Wirtschaftsakteure fixierten Ordnungsökonomen auch in Zukunft in gemeinsamer Forschung verbindet, bleiben die Unwägbarkeiten menschlichen Verhaltens. Selbst die mit Hilfe der schnellsten Großrechner gelungene Entschlüsselung des menschlichen Genoms hat das Rätsel Mensch nicht vollends zu lösen vermocht. Den Ordnungsökonomen bleibt daher beim Aufspüren der nach wie vor großen Unbekannten, nach welchen Werten der Mensch wirtschaftlich handelt und wie die Politik sein Handeln in gemeinschaftsdienliche Bahnen zu lenken vermag, noch viel zu tun.

Wissenschaft und Politik vor neuen Herausforderungen

Mit dem Zusammentreffen der Umbruchtriade von Globalisierung in der Wirtschaft, digitaler Revolution in der Technik und demografischer Schere in der Gesellschaft am Übergang vom 20. in das 21. Jahrhundert stehen die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Herausforderungen gegenüber, denen sie sich in dieser Massierung in ihrer bisherigen Geschichte nicht ausgesetzt sahen. Nachdem sich ein Großteil der Theoreme der klassischen Nationalökonomie zu Zeiten der Frühindustrialisierung am Modell einer geschlossenen Volkswirtschaft herausgebildet hatte, haben die auf ihnen beruhenden wirtschaftspolitischen Regelwerke unter den Bedingungen des inzwischen zum Durchbruch gelangten internationalen Freihandels weithin ihre „Passfähigkeit“ (Biedenkopf) verloren. Wettbewerbs- und Tarifregeln, die für geschlossene Handelsräume erdacht und etabliert wurden, wandeln sich zur Selbstfesselung der Wirtschaftskräfte, wenn sich der Wettbewerb unversehens auf weltweit offenen Märkten abspielt. Schwächung des Binnenwachstums, Beschäftigungseinbrüche und Einkommensverluste sind unter diesen Umständen eine hausgemachte Folge unterbliebener Anpassung der wirtschaftspolitischen Regelwerke an die grundlegend veränderten Wirtschaftsverhältnisse in der Globalisierung.

Verschärft wird der Anpassungsdruck durch den im Zuge der digitalen Revolution beschleunigten Wandel der Produktionsbedingungen mit der Folge zunehmender Tertiarisierung (Dienstleistungsdichte) der wirtschaftlichen Wertschöpfung. Von der Politik wird bisher kaum wahrgenommen, dass der industrielle Sektor in Deutschland nur noch mit einem Minderheitsanteil von gut 20 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt. Über Dreiviertel des deutschen Sozialprodukts bestehen heute aus nicht-industriellen Leistungen in Handel, Logistik und Dienstleistungsökonomie einschließlich des Handwerks und der sich rapide entwickelnden Online-Wirtschaft, die bei ihrer Leistungserstellung bis auf den Energieeinsatz kaum einem Ressourcenabbau unterliegen. Vor allem vor diesem Hintergrund entpuppt sich die allseits geforderte Abkehr vom Wachstumsdenken als ein von rationalen Erwägungen entkoppelter Populismus. Wobei die zeitgeistige Wachstumsphobie auch in der mangelnden öffentlichen Wahrnehmung begründet sein mag, dass es der erst seit den 90er Jahren auf den Plan getretene Unternehmenstyp des wissensbasierten Dienstleisters und Nischenproduzenten ist, der seither bei uns wie überall sonst auf der Welt die Dynamik des modernen Wirtschaftsgeschehens bestimmt. In völliger Verkennung seines dominanten Leistungsbeitrags wird er gern mit den vergleichsweise unproduktiven High-Touch-Dienstleistungen in einen Topf geworfen („Wir können uns schließlich nicht alle gegenseitig die Haare schneiden“). Ein Blick in die Kundenlisten der Werbeagenturen zeigt, dass die den Dienstleistungen einst zugeschriebene Wasserträgerrolle für die Industrie ein längst überholter Mythos ist.

Wichtiger ist, dass die Leistungen des unser Wirtschaftsgeschehen bestimmenden tertiären Sektors überwiegend in kleinteilig organisierten Betrieben des Mittelstands erbracht werden, für die Tarifregeln, die einst gutgemeint zur Zähmung der Marktmacht industrieller Großkombinate erdacht wurden, längst in eine Behinderung ihrer Leistungskraft umgeschlagen sind. Statt ihnen zur nachhaltigen Krisenbewältigung politischen Flankenschutz zuteil werden zu lassen, die keineswegs in Form von Subventionen gefordert sondern als steuerliche und bürokratische Entlastung erwartet wird, entfaltet der in überholten Vorstellungen befangene Vater Staat industriepolitischen Aktionismus (Holzmann, Opel, Abwrackprämien) als sei es seine vorrangige Pflicht, von der Evolution aufgegebene Dinos noch möglichst lange vor dem Aussterben zu bewahren. Die von der Politik ins Feld geführte Rechtfertigung, es ginge dabei um Arbeitsplatzsicherung, erweist sich als wenig überzeugend und fadenscheinig. Denn der beabsichtigte Beschäftigungseffekt wäre bei einem haushaltsneutralen ordnungspolitischen Entlastungsschub im wachstumsstarken „75-Prozent-Sektor“ der tertiären Wirtschaftsleistung ungleich größer als er es beim stattdessen unternommenen staatsschuldtreibenden fiskalpolitischen Kraftakt zugunsten des schrumpfenden, nur gut 20 Prozent des Sozialprodukts ausmachenden Industriesektors je sein könnte.

Gerade dieses Beispiel ordnungspolitischer Fehldisposition macht deutlich, dass neues Denken gefragt ist, wenn sich die Verhältnisse grundlegend verändert haben. Dabei besteht die entscheidende Hürde für ein besseres Verständnis der Zusammenhänge im gedankenlosen Umgang mit Begriffen, deren ursprüngliche Inhalte dem Wandel der Zeiten mehr und mehr zum Opfer gefallen sind. Das alte Produktivitätsprivileg, das die Industrie bis in die jüngsten wirtschaftspolitischen Belebungsversuche für sich behauptet, wird längst auch von weiten Bereichen der nicht-industriellen Wertschöpfung beansprucht. Wie bei der Explosion eines alten Sterns haben sich mit der technologischen Revolution der Digitalisierung die Produktivitätskerne vervielfacht. Sie entfalten ihre Kräfte nicht mehr allein in der physischen Gestalt des industriellen Maschinenparks. Sie haben sich auch in den neu entwickelten Leistungsbereichen der wissensbasierten Dienstleistungsökonomie eingenistet und setzen von dort aus immer wieder neue Wertschöpfungsketten in Gang. Erstmalig in der Menschheitsgeschichte gibt es kaum einen Beruf, ob Ingenieur, Manager, Handwerker, Journalist, Lehrer, Arzt oder Theaterregisseur, der nicht auf das von allen gleichermaßen genutzte Universalhandwerkszeug des mit dem Internet verbundenen Computers angewiesen wäre.

Quelle der Produktivität in der wissensbasierten Dienstleistungsökonomie ist nicht wie in der ressourcenverarbeitenden Industrie der den Arbeiter zunehmend ersetzende Maschinenroboter sondern der von außen nicht erkennbar mit einem Heer von Hochleistungssklaven in Form winziger Elektronikchips ausgestattete, das Informations- und Wissensmanagement steuernde Mensch. Die Konsequenzen für ein aus dieser Revolutionierung der Produktionsbedingungen fließendes neues Verständnis von Arbeit, Wachstum und Einkommensverteilung sind von der Wissenschaft erst in Ansätzen gezogen worden und haben den politischen Diskurs bisher kaum erreicht. Das gilt vor allem im Hinblick auf die emanzipatorische Kraft, die der elektronische Halbleiter dem produktiven Tun des Menschen verleiht, das wir bisher Arbeit nennen, aber die Sache längst nicht mehr trifft. Das aus den Verhältnissen des Frühkapitalismus seit Adam Smith und Karl Marx entwickelte Modell der Faktorkombination von Arbeit und Kapital reicht nicht mehr aus, das Entstehen von Wirtschaftswachstum und die Verteilung der aus ihm fließenden Einkommen unter den heutigen Bedingungen wirtschaftlicher Wertschöpfung zu erklären. Im Zeitalter der nachindustriellen Information- und Wissensgesellschaft sind es die vielfältigen Formen von Kommunikation in Verbindung mit den in den einzelnen Leistungsprozessen in unterschiedlicher Dichte zum Einsatz kommenden Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), die das produktive Leistungsergebnis und die Zuteilung auf seine Erzeuger bestimmen.

Tabubrechendes Politikhandeln ist gefragt

Zur Lösung der anstehenden Probleme unzureichenden Wachstums, mangelnder Beschäftigung und stagnierender bis rückläufiger Realeinkommen gilt es daher, die inkompatibel gewordenen wirtschaftspolitischen Regelwerke angesichts der gewandelten Verhältnisse neu zu adjustieren. Ralf Dahrendorf hat hierzu in seinem letzten publizierten Beitrag vor seinem Tod („Nach der Krise“, Merkur, Heft 5, 2009) einen neuen Umgang mit der Zeit, insbesondere bei der „Rekonstruktion des Sozialstaates“ angemahnt. Das bedeutet vor allem, das Zeit-Leistungs-Verhältnis des tradierten, aus dem 8-Stunden-Rhythmus der Maschinenlaufzeiten im Industriebetrieb abgeleiteten Arbeitsbegriffs an die grundlegend veränderten Leistungsprozesse anzupassen. Das von den Schablonen einer „alten Sicht der Dinge“ verdeckte und durch kürzere Einsatzintervalle zu erschließende Arbeitsangebot wäre auf diesem Wege, wie in etlichen Reformländern erfolgreich praktiziert, auch bei uns für die Beschäftigungspolitik wieder verfügbar zu machen. Die stattdessen von beiden Volksparteien im Verein mit den Gewerkschaften propagierten industriefokussierten Vollzeit-Beschäftigungsprogramme herkömmlicher Art mögen als Beleg dafür gelten, wie abgehoben von den Erfordernissen der Zeit die Politik in dieser Sache weiterhin agiert.

Will man der Massenarbeitslosigkeit ernsthaft an den Kragen, führt für den am prekärsten betroffenen Niedriglohnsektor kein Weg an zeitlicher Flexibilisierung des Arbeitseinsatzes vorbei. Mit der Einführung eines standardisierten Teilzeitarbeitsmodells (400 €/Monat-Dienstleistungsscheck für 12,5 Stunden/Woche, was einem systemischen Mindestlohn von 8 €/Stunde entspräche) wäre es möglich, dem Produktivitätshandicap der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse durch Komprimierung des Arbeitseinsatzes beizukommen. Es müsste nur der Anreiz zur Aufnahme dieser Tätigkeiten durch Freigabe von Mehrfachbeschäftigung nach eigener Wahl verbunden mit belastungsgerechtem Zuschnitt bei

Steuern und Abgaben (bis hin zu brutto gleich netto) geschaffen werden1. Dadurch könnte ein Großteil der das Sozialbudget belastenden Transferzahlungen in Eigenerwerbseinkommen überführt werden mit allen sich daraus ergebenden positiven Wirkungen nicht nur auf das gesellschaftliche Klima sondern auch für den Staatshaushalt und die Sozialkassen. Im Facharbeitssektor wäre das Thema Arbeitslosigkeit ein für allemal lösbar, wenn es zur Umwandlung der überholten Arbeitslosenversicherung in eine Berufliche Weiterbildungsversicherung käme, mit deren Hilfe beschäftigungslose Phasen in aktive, der Fortbildung dienende Berufszeiten zu überführen und auf diesem Wege geschlossene Erwerbsbiographien zu schaffen wären.

Wie der Korken aus der Flasche, der den systemrettenden Geist eingeschlossen hält, wäre mit diesen und weiteren auf dieser Linie liegenden Reformschritten eine Blockade aus dem Arbeitsmarkt genommen, die maßgeblich dazu beiträgt, einen Durchbruch bei den großen Reformvorhaben der Politik zu behindern. Eine Umschichtung des Großteils der im Sozialbudget es Staatshaushalts für konsumtive Zwecke gebundenen Mittel auf Investitionen in Bildung, Forschung und Logistik sowie in eine breite steuerliche Entlastung mittelständischer Betriebe und Privathaushalte würde jenen Treibsatz für Wachstum, Beschäftigung und gerechtere Einkommensverteilung zünden, dessen das System zur Wiedergewinnung seiner Zukunftsfähigkeit so dringend bedarf.

unter dem Titel "Wie man den Korken aus der Flasche bekommt" erschienen in: Zukunft des Kapitalismus, edition suhrkamp 2009

 
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