Multimediadienste sind die Handelsgüter der Informationsgesellschaft

Wolfgang Müller-Michaelis

Es war im Jahre 1902, als sich Prinz Heinrich von Preußen, Bruder Kaiser Wilhelms II, auf der Heimreise von einem USA-Aufenthalt einer prekären Lage ausgesetzt sah. Er wollte sich bei Präsident Roosevelt von See aus per Funktelegramm für die genossene Gastfreundschaft bedanken. Indessen lehnte die Funkstation auf dem nordamerikanischen Festland, die zu jener Zeit von der britischen Marconi-Gesellschaft betrieben wurde, den Empfang des deutschen Funkspruches ab. Angesichts dieses Vorfalls verwundert es nicht, dass die deutsche Reichsregierung im folgenden Jahr 1903 zur ersten internationalen Konferenz zur Regelung des Funknachrichtenverkehrs nach Berlin einlud, aus deren Folgekonferenzen der Internationale Fernmeldeverein (IFV) mit Sitz in Genf hervorging.

Wie am Beginn dieses Jahrhunderts stehen wir auch am Ende vor einem akuten Regulierungsbedarf im Funkwesen, diesmal nicht nur international, sondern auch national, wobei wir uns hier auf die nationale Diskussion beschränken wollen. Dabei ist heute wie 1902 der "Marconi-Geist" der Stein des Anstoßes. Er ist trotz der ein ganzes Jahrhundert umfassenden Zähmungsversuche noch immer virulent. Und er hat, wie ein Bazillus, die Fähigkeit entwickelt, in immer wieder anderer Gestalt aufzutreten. In der aktuellen deutschen Situation des Jahres 1996 tritt er sowohl im Marktverhalten der Telekom als auch in der Verhandlungsposition der Ministerpräsidenten bei der Beratung des Telekommunikationsgesetzes in Erscheinung.

Die Telekom missbraucht ihre (noch befristet) bestehende Monopolposition am deutschen Telekommunikationsmarkt, um den Marktzugang (z.B. Zugang zum Fernsprechnetz) ihrer künftigen Wettbewerber abzublocken, obgleich sie nach geltendem Recht verpflichtet ist, diesen Zugang zu gewähren. Unsere Hüter des Wettbewerbs verharren in einem abwartenden Attentismus, als ob Marconi zum neuen Schutzheiligen des Bundeskartellamtes avanciert wäre. Das mögliche Motiv, dem Privatisierungskandidaten Telekom auf dem Weg zur Börse Startvorteile zu verschaffen, mag zwar ehrenhaft sein, ist aber schlicht rechtswidrig.

Bei der Verhandlungsposition der Ministerpräsidenten im Streit mit dem Bund um die Regulierungskompetenz in Sachen Multimedia ist die Sache komplizierter. Den Ministerpräsidenten muss man bei ihrem Versuch, die neuen technischen Entwicklungen im Bereich von Multimedia unter den Rundfunkbegriff zu fassen und daher ihrer verfassungsgemäßen Regelungskompetenz zu unterstellen, zubilligen, dass sie sich mangels besserer Erkenntnis in dem Glauben wähnen, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Niemandem ist gerechterweise vorzuwerfen, er vermöge die Tragweite revolutionärer Prozesse nicht zu erfassen, denen er ausgesetzt ist. Denn darum handelt es sich beim Übergang von der postindustriellen zur Informationsgesellschaft, dessen Zeitzeugen wir sind und dessen Revolutionsmotor die neue Kommunikationstechnologie ist.

Dass sich die neuen multimedialen Leistungen z.T. derselben medialen Transportsysteme und Übertragungsgeräte bedienen wie das gute alte "Dampfradio" oder das "Puschenkino", mag dazu verleiten, sie als Rundfunk und Fernsehen zu empfinden. Aber von ihrer Sache her sind sie etwa völlig anderes. Die neuen Multimediadienste sind tatsächlich die Handelsgüter der aufkommenden Informationsgesellschaft. Es handelt sich um mediale Dienstleistungen, denen ein individueller Kaufvertrag zwischen Anbieter und Konsument zugrunde liegt, genauso wie bei einer Pizzalieferung, einer Buch- oder Weinsendung. Sie sind nicht schon deshalb Rundfunk und Fernsehen, weil sich der Empfang der medialen Dienstleistungen auf dem häuslichen Bildschirm abspielt.

Wenn ich, statt ins Kino zu gehen, mir den technischen Fortschritt nutzend den Film auf den häuslichen Bildschirm überspielen lasse, ist das eine multimediale Dienstleistung und hat mit Rundfunk nichts zu tun. Genauso verhält es sich mit der wachsenden Fülle medialer Leistungen, die zunehmend unser berufliches und privates Leben bestimmen werden: Tele-Arbeit, Tele-Bildung, Tele-Shopping, Tele-Banking, um nur die Avantgarde an Erscheinungsformen der erst im Aufbau befindlichen multimedialen Revolution zu nennen. Angesichts dieser Sachlage liefe die Rechtsauffassung der Ministerpräsidenten in der Konsequenz darauf hinaus, den Wirtschaftsverkehr der künftigen Informationsgesellschaft in toto als übergreifende Rundfunkveranstaltung anzusehen. Sollte sich diese Auffassung durchsetzen, käme dies einem modernen Schildbürgerstreich mit unabsehbar belastenden Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland gleich.

Das die Regelungskompetenz des Bundes vertretende Gutachten von Bullinger und Mestmäcker legt mit Recht das Schwergewicht darauf, dass dem Bund die konkurrierende Gesetzgebung für die Wirtschaft unbestritten zustehe. Das müsse auch für die modernen Formen des Handelstausches in der Informationsgesellschaft gelten. Die Ministerpräsidenten wären gut beraten, den Weisen in ihrer Mitte zu folgen, die wie Kurt Biedenkopf kraft fachlicher Kompetenz bereit sind, die Länderinteressen dem nationalen Interesse unterzuordnen. Das nationale Interesse liegt darin, unser Land im Wege zeitgemäßer Gesetzgebung für die globale Informationsgesellschaft fit zu machen. Es geht darum, statt auf den rückwärts gewandten Geist von Marconi auf den zukunftsweisenden von Eucken und Erhard zu setzen.

© B-I-K Consulting
    

Juni 1996

 
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