Statt Ausbeutung der Enkel Renovierung der sozialen Regelwerke

Bundeskanzlerin Merkel läuft mit ihren fragilen reformpolitischen Ansätzen Gefahr,
den Anschluss an den ordnungspolitischen Neubeginn der Agenda 2010 ihres Vorgängers zu verfehlen

Wolfgang Müller-Michaelis

Es sollte nicht als Miesmacherei ausgelegt werden, wenn angesichts der Begeiste-rungsstürme, die das Land erfasst haben, nach der vermutlichen Stimmungsla-ge gefragt wird, die sich im Anschluss an das Finale und jähe Ende der Fußballweltmeisterschaft ausbreiten dürfte. Dass mit einem kräftigen Kater zu bezahlen sein wird, was im Überschwang der Gefühle vorübergehend der Verdrängung anheim gefallen ist, er-scheint als Prognose nicht allzu gewagt – unabhängig davon, in welche Höhen sich die deutsche Nationalmannschaft in der Endrunde aufzuschwingen vermag.

Der Bundeshaushalt 2006 und die Zustandsberichte von den Reformbaustellen Ge-sundheit, Arbeitsmarkt und Steuern werden für unmittelbare Ernüchterung sorgen. Die Leichtigkeit des Seins wird nach dem 9. Juli 2006 für viele wieder der Bürde unsicherer Erwartungen über den künftigen wirtschaftlichen Lebenszuschnitt weichen. Gegenüber dem, was angekündigt wurde, klafft zwischen dem Erfolgsausweis von National-mannschaft und Bundesregierung jedenfalls eine deutliche Lücke.

Dabei besteht die Ironie der Reformpolitik der Regierung darin, den Weg des geringsten Widerstandes zwar in der Absicht zu gehen, möglichst wenigen wehzutun, in der Folge aber die große Mehrheit zu verprellen. Die mit Bildung der großen Koalition weithin gehegte Hoffnung, mit der geballten Macht parlamentarischer Mehrheit würden die Entscheidungsblockaden des politischen Patt aufzubrechen sein, das Gerhard Schröder zur Aufgabe zwang, hat sich als Illusion erwiesen. Was tatsächlich geschah, war eine Ortsverlagerung der Pattsituation: vom Bundestag ins Regierungskabinett.

Die Ungemütlichkeit dieser Konstellation war von der Bundeskanzlerin, wollte sie in dieser Falle ihren Führungsanspruch und ihre Handlungsfähigkeit demonstrieren, nur durch unablässiges Leinegeben in Richtung des als un-gebrochen eingeschätzten rot-grünen Mainstreams zu bewältigen. Dass dies um den Preis ihrer Glaubwürdigkeit und bröckelnder Umfrage-werte der Union geschah, hat sie bisher mit einer bemerkenswert zur Schau getra-genen Nonchalance in Kauf genommen. Dabei sind, in welcher Lage auch immer, persönliches Machtkalkül das eine und Eigenleben der Probleme das an-dere. Dass die Kanzlerin dieses Spannungsverhältnisses eingedenk ist, macht ihr aus dieser Sicht nur scheinbar irritierender Einwurf vom Sanierungsfall, in dem sich das Land befinde, deutlich. Das Denken in Eventualitäten ist eben gerade in bewegten Zeiten eine Überlebensfrage.

Unfair wäre es, die offen zutage liegenden Kompetenzdefizite der Unionsspitze in Sachen Wirtschaft und Finanzen, dem wohl gewichtigsten Grund der eher enttäuschenden reformpolitischen Zwischenbilanz der Koalition, der Bundes-kanzlerin allein anzulasten. Allenfalls trägt sie Verantwortung für die Per-sonalpolitik bei der Auswahl ihrer engeren Berater. Die Konturenlosigkeit der Union in Wirtschaftsfragen kommt nicht zuletzt in der Besetzung der Spitze des Wirtschafts-ministeriums mit einem fachlich überforderten Führungsmitglied der Uni-onsfraktion zum Ausdruck. Gerade unter diesem Aspekt könnte sich der tak-tisch motivierte Verbiss der einzigen Wirtschafts- und Finanzkoryphäe, über die die Führungsriege der Union in Person des ehemaligen Frakti-onsvorsitzenden Friedrich Merz bis 2003 verfügte, im Nachhinein als strategi-sches Waterloo der Kanzlerin Merkel erweisen.

Nun kommt es nicht nur in der Wirtschaft vor, dass mit dem Führungswechsel an der Unternehmensspitze auch das personale Umfeld ausgewechselt wird und damit ganze Erfahrungs- und Wissensbatterien aus dem Führungsgefüge herausgebrochen werden. Ähnliches muss offenbar beim Ausscheiden von Friedrich Merz aus seinen Parteiämtern passiert sein. Anders ist kaum zu ver-stehen, weshalb im Repertoire der Unionsdarbietungen unter Angela Merkel so we-nig aus dem Drehbuch der Sozialen Marktwirtschaft durchschimmert. Gerade der sozialmarktwirtschaftlich geschulte Finanzwirtschaftler Merz wusste, dass mit Fi-nanzpolitik allein der reformpolitische Durchbruch nicht zu erzielen ist.

Sie degeneriert zu reiner Umverteilungspolitik ohne Umverteilungsmasse, wird sie nicht in die Disziplin eines ordnungspolitischen Überbaus genommen, der den ansonsten staatsschuldtreibenden Sozialaktivismus in Grenzen hält. Solidari-sches Handeln für die Schwachen setzt nun einmal voraus, den Leistungsstar-ken Freiraum zu schaffen, das zu erwirtschaften, was später verteilt werden soll. Daher ist Kraftstoff für den Wirtschaftsmotor eben nicht, wie es die Koaliti-on ungeachtet der schlechten Erfahrungen mit dieser Methode unverdrossen prakti-ziert, das Herumhantieren mit Steuermilliarden.

Steuern werden von Bürgern und Unternehmen erhoben und Beschneiden mit der Höhe der Sätze Realeinkommen und Kaufkraft der einen und Investi-tionsspielräume der anderen. Sie würgen, wenn sie eine entsprechende Höhe erreicht haben, den Motor ab, statt ihn anzutreiben. Was bei diesem Vor-gang im Endeffekt tatsächlich ansteigt, ist die Drehgeschwindigkeit der Schul-denspirale. Ausbeutung der Enkel wird diese Variante der Reformpolitik von Kurt Biedenkopf genannt.

Was wirklich helfen würde, ist eine Methode, die von den Reformländern in unserer Nachbarschaft, von Dänemark über Irland und Holland bis Österreich und der Schweiz seit Jahren in unterschiedlicher Ausprägung erfolgreich vorgeführt wird. Sie haben ihren Ludwig Erhard gelernt, der bei uns offenbar zu den Akten gelegt worden ist. In Deutschland mangelt es jedenfalls ge-nauso wenig an ausreichender Beschäftigung wie bei ihnen, wenn man sich von der gewerkschaftlichen Definitionshoheit in Sachen Arbeit löst, was sie und andere Länder Europas mit Erfolg getan haben.

Es wird hierzulande noch immer nicht verstanden, dass bei einem neuen Zuschnitt von steuer- und sozialbeitragsgeförderter Teilzeitarbeit mit Zulassung von Mehrfachjobs für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ausreichend hohe Nettolöhne zu verdienen sind. Werden die Tarif- und Abga-benregeln so angepasst, dass sie entsprechend individueller Bereitschaft mehrere Teilzeitjobs zulassen, ist unter diesen Umständen Arbeit im Kleingewerbe, im Dienstleistungssektor, in gemeinnützigen Einrichtungen, Kommunen und Pri-vathaushalten in ausreichendem Maße verfügbar. Der weichenstellende Hebel liegt, so lautet die Botschaft der Reformländer, in einem zeit-gemäßen Tarif- und Abgabenrecht, nicht in der Finanzpolitik.

Treibriemen für das Anspringen des Motors sind bei dieser Variante nicht ins Uferlose steigende und wirkungslos verpuffende Sozialsubventionen, sondern Re-gelwerkveränderungen am Arbeitsmarkt und in der Sozialarchitektur. Im Grun-de geht es darum, uns diese Einsicht unserer kleineren, aber offenbar wacheren Nachbarn zunutze zu machen. Wenn der einst beherrschende Anteil industrieller Produktion am Sozialprodukt nur noch bei 25 Prozent liegt, geht das an der Massen-beschäftigung in industriellen Großunternehmen und an den Produktions-bedingungen einer geschlossenen Volkswirtschaft gewachsene Tarifrecht schlicht-weg am heutigen Regelungsbedarf vorbei, wo sich überwiegend kleinteilig or-ganisierte Unternehmen im globalen Wettbewerb behaupten müssen. Sie mit Flächentarif, Kündigungsschutz und Arbeitszeitvorgaben zu gängeln, läuft auf eine Dauergefährdung ihrer wirtschaftlichen Exis-tenz hinaus.

Das heißt nicht, Tarifhoheit und Mitbestimmung infrage stellen zu wollen. Es fordert aber die Tarifparteien heraus, die Arbeitnehmerinteressen unter den gewan-delten Verhältnissen dort zu sehen, wo sie der Förderung heute am ehes-ten bedürfen: bei der beruflichen Weiterbildung und beim Aufbau einer zweiten Säule der Alterssicherung. Hier eröffnen sich neue Aktionsfelder einer investiven Tarifpolitik, die der sozialen Sicherung auf eine Weise zu dienen geeignet sind, die weder neue Beschäftigungsrisiken heraufbeschwören noch wei-tere Haushaltslöcher aufreißen.

Solange die Tarifparteien nicht bereit sind, Massenarbeitslosigkeit als Folge ihres Beharrens auf sozialen Regelwerken zu sehen, die ihre Funktionsfähigkeit durch ständige Überforderung längst eingebüßt haben, wird die Reformblockade nicht zu durchbrechen sein. Die Bundeskanzlerin hat es bisher vermieden, den politischen Beitrag der Tarifparteien zum Reformpakt einzu-fordern. Hier fällt sie deutlich hinter ihren Vorgänger zurück, der in seiner zweiten Amtsperiode mit der Agenda 2010 den Mut aufbrachte, die ordnungs-politische Wende einzuleiten. Dem Umstand, dass dieser Neubeginn schon in den Anfängen steckenblieb, verdankt Angela Merkel ihr Kanzleramt. Die bisherigen sieben Monate ihrer Amtszeit haben statt Aufbruch einen fatalen Rückfall in die alte Politik der Steuerschraube gebracht. Das ist der falsche Weg, die das Land bedrängende Schieflage von Realeinkommenseinbußen, Wachstumsschwäche, Massenarbeitslosigkeit und Staatsschuldvermehrung umzukehren. Erst einmal müssen die Barrieren am Arbeitsmarkt aufgebrochen werden, wenn, wie von den Reformländern unserer Nachbarschaft vorexerziert, wieder mehr Geld in die Taschen der Bürger und in die Kassen des Staates fließen soll.

Juni 2006

 
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