Weiße Wirtschaft" im Aufwind

"Weiße Wirtschaft" im Aufwind

Wolfgang Müller-MichaelisIn der Wachstumsdynamik der weltweiten Halbleiterproduktion, deren Steigerung von gegenwärtig über 100 Mrd. Dollar auf 300 Mrd. Dollar bis zum Jahr 2000 geschätzt wird, findet der Übergang in das Multimedia-Zeitalter seinen spektakulärsten Ausdruck.Die größten Absatzmärkte der Chip-Produktion sind die "authentischsten" I+K-Industrien Datentechnik, Telekommunikation, Kraftfahrzeug-Elektronik und Unterhaltungselektronik, kurz: die am sogenannten Faktor "K" orientierten High-Tech-Industrien. Ihre Märkte haben heute ein Größenverhältnis zueinander (der obigen Aufzählung folgend) wie 6:3, 5:2:1. Dabei sind Datentechnik, Telekommunikation und Unterhaltungselektronik jene Einsatzbereiche, die im Zeitalter von Multimedia zunehmend stärker miteinander integriert werden und aus diesem Zusammenwachsen jene neuen Anwendungspotentiale schaffen, die unsere Lebensumstände grundlegend verändern und im Nebeneffekt unser soziales Jahrhundertproblem, die Arbeitslosigkeit, beseitigen helfen werden.Es erscheint nur auf den ersten Blick als ein Widerspruch, daß diese auf einen steigenden Beitrag des tertiären Sektors zum Bruttosozialprodukt angelegte Entwicklung im industriellen Sektor ihren Ausgang nimmt. Der Übergang von der industriellen auf die informelle Wirtschaftsweise bedeutet keineswegs eine Substitution des einen durch den anderen Sektor.Obgleich sich der industrielle Produktionswert in Deutschland von 1960 bis 1992 von 150 Milliarden DM auf 1000 Milliarden DM mehr als versechsfacht hat, ist der Industrieanteil an der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung im selben Zeitraum von 50 Prozent auf 38 Prozent deutlich abgefallen.Das ist auf den intra-industriellen Strukturwandel - Verlagerung von der Schwerindustrie zur High-Tech-Produktion - zurückzuführen. Während sich die "alte Garde" der ressourcenintensiven Industrien schon seit geraumer Zeit auf dem Rückzug befindet, sind moderne, kommunikative Industrien immer stärker auf dem Vormarsch. Zur "alten Garde" der klassischen Industriezweige, die mit emissionsträchtiger Produktionsweise verbunden und durch ,,qualmende Schlote" symbolisiert sind, gehören beispielsweise die Eisenschaffende Industrie, Ziehereien und Kaltwalzwerke, Industrie der Steine und Erden, Gießereien und der Schiffbau. Sie haben sämtlich erhebliche Anteilsverluste an der Industrieproduktion hinnehmen müssen.Wachsende Kommunikations-IndustrienAuf der Siegerstraße innerhalb des industriellen Sektors marschieren demgegenüber Produktionsbereiche, in denen Kommunikation nicht nur in Form von Prozeßsteuerung eine Rolle spielt, sondern deren Entwicklung durch kommunikationsintensive High-Tech-Innovationen wesentlich bestimmt wird. So hat eine ausgewählte Gruppe von zwölf Industrien, auf die diese Merkmale zutreffen und zu denen z.B. die Elektrotechnische Industrie, Feinmechanik, Büromaschinen- und EDV-Geräte-lndustrie, Feinkeramik und Luft- und Raumfahrzeugbau gehören, ihren gemeinsamen Wertschöpfungsanteil an der gesamten Industrie innerhalb einer Generation (von 1960 bis 1992) von 38 Prozent auf 56 Prozent ausweiten können. Aus den hier erzeugten Produkten und Produktgruppen ragen insbesondere diejenigen heraus, die das Innovationsgeschehen im High Tech-Bereich zunehmend stärker bestimmen werden: die Informations- und Kommunikationstechnik, die neuen Werkstoffe, die Biotechnologie, die Umwelt- und Energietechnik sowie die Mikrosystemtechnik. Der bei diesen Industrien zum Ausdruck kommende steigende Modernisierungsgrad der deutschen Volkswirtschaft ist zugleich Beleg für die schöpferische Wirksamkeit des Faktors "K" gerade auch im industriellen Sektor. Komplementär wird dieser Substitutionsprozeß innerhalb der Industrie vom tertiären Sektor her durch das mit steigendem technischen Fortschritt in der elektrotechnischen Leit-Industrie begründete Potential neuer informations- und kommunikationstechnologischer Anwendungen bestimmt, das die eigentliche Entwicklungsdynamik des tertiären Sektors ausmacht. Der tertiäre Sektor wird damit dank der unbegrenzten Vielfalt Faktor-"K"-induzierter Anwendungen zur wachstumsträchtigen "weißen Wirtschaft" der Zukumft. Dabei ist der Durchbruch zur informellen Wirtschaftsweise heute bereits Realität. Zwischen den primären, sekundären und tertiären Sektoren der Volkswirtschaften der westlichen Industrieländer haben sich im Verlauf der letzten gut 30 Jahre gravierende Umwälzungen vollzogen, die in der Wirtschaftsgeschichte der Menschheit ohne Beispiel sind.    Der große Gewinner dieses sektoralen Strukturwandels war der tertiäre Sektor mit Handel und Verkehr, Dienstleistungen, staatlicher Verwaltung einschließlich der Wirtschaftsleistungen privater Haushalte und privater Organisationen ohne Erwerbszweck. Diesen Sektor zeichnet bei allen Unterschieden in Leistungsinhalten und Wirtschaftsformen (und wenn unter diesem Aspekt der Verkehr mit seinen sektoralen Besonderheiten außer Betracht bleibt) das gemeinsame Merkmal aus, daß zur Leistungserstellung fast kein Ressourcenabbau stattfindet. Das verbindende Merkmal dieses Sektors der "weißen Wirtschaft" ist, daß seine Leistungen fast ausschließlich kommunikativer Natur sind. Ob der Beamte in der Verwaltung, der Expedient im Handelshaus, die Bankkauffrau am Bankschalter, der Strafverteidiger bei seinem Plädoyer, die Sopranistin in der Oper, die Angestellte im Reisbüro, der Versicherungsagent, der Einkäufer des Versandhauses, die Sekretärin im Büro, der Lehrer in der Schule, der Programmierer im Unternehmen - sie alle tun während ihrer Arbeitszeit fast nichts anderes, als auf ihre jeweils fachspezifische Art zu kommunizieren.Bei der bisher schon erfolgten explosiven Auffächerung von Berufsbildern innerhalb des tertiären Sektors sollte es nicht schwerfallen, sich immer neue Tätigkeitsbereiche mit praktisch unbegrenztem Zuwachspotential an neuen Berufsfeldern vorzustellen. Bereits heute sind in Deutschland 75 Prozent der Erwerbstätigen - egal ob sie im produzierenden Gewerbe oder im Dienstleistungssektor arbeiten - mit Dienstleistungsfunktionen befaßt, die sich durch überwiegend kommunikative Tätigkeitsmerkmale auszeichnen. Während der Faktor "K" im industriellen Sektor zur Vernichtung von Arbeitsplätzen beiträgt, produziert er in der "weißen Wirtschaft" neue Berufe in Fülle und Vielfalt. Die damit einhergehende enorme Ausweitung der Wirtschaftsleistung hatte bereits in den letzten 30 Jahren ein sehr dynamisches Wirtschaftswachstum des Dienstleistungssektors zur Folge. Bei einer absoluten Verdreizehnfachung seiner Wertschöpfung von 1960 bis 1992 hat er seinen Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Leistung von 41 Prozent auf 61 Prozent sprunghaft ausgeweitet. Japan gehört wie Deutschland zu den Ländern, die sich nur relativ zäh aus ihrer Industrie-Tradition lösen und gegenüber Ländern wie USA und Dänemark auf diesem Gebiet noch einiges aufzuholen haben.Traditionell haben sich die Dienstleistungen aus vor- und nachgelagerten "Hilfsdiensten" für die handwerkliche, gewerbliche und industrielle Produktion entwickelt. Es sind dies die "klassischen" Dienstleistungen des Handels (Einzelhandel, Groß- und Außenhandel), des Transport- und Speditionsgewerbes, des Post- und Fernmeldewesens sowie der Banken und Versicherungen.Dienstleistungen "neuer Generation"Während alle diese klassischen Dienstleistungen - wie im übrigen auch Industrie und Handwerk - mit Hilfe der neuen Informationstechnologie in die Lage versetzt werden, ihre Leistungs- und Produktionsbedingungen hinsichtlich Effizienz und Qualität erheblich zu verbessern, ohne dabei allerdings natürliche Grenzen des gesellschaftlichen Bedarfs durchbrechen zu können, gibt es eine Gruppe von Dienstleistungen "neuer Generation", denen der Faktor "K" zu praktisch unbegrenztem Wachstum ihrer Leistungen verhilft und die daher die zukünftige Wirtschaftsentwicklung maßgeblich bestimmen werden. Wenn heute bereits 61 Prozent des deutschen und 70 Prozent des US-Sozialproduktes im tertiären Sektor erwirtschaftet werden, liegt eine Umschichtung der gesamtwirtschaftlichen Leistungsstruktur in Richtung eines 80prozentigen Anteils des tertiären Sektors am Bruttosozialprodukt bei gleichzeitigem stetigen Wachstum der gesamten Wirtschaft - das zunehmend ressourcenvernichtungsneutral erbracht wird - im Bereich des Möglichen. In Baden-Württemberg sind fast 90 Prozent der seit l980 geschaffenen Arbeitsplätze im tertiären Sektor entstanden.    Dieser Strukturwandel wird von der Leistungsexplosion einer Gruppe von Dienstleistungen "getragen", die sämtlich den Vorzug hoher Affinität zu den Nutzungschancen der neuen kommunikativen Technologien genießen. Es sind die als "weiße Wirtschaft" bezeichneten Dienstleistungen, die jede für sich auf eine - zum Teil menschheitsalte - Geschichte zurückblicken können, deren Darbietung aber bis in die jüngste Vergangenheit und in vielen Fällen auch noch heute überwiegend außerhalb des volkswirtschaftlichen Leistungs- und Abrechnungssystems erfolgt. Ihre durch Einführung neuer lnformationstechnologien ermöglichte kommunikative Erschließung hat ihre zunehmende Kommerzialisierung und damit wachsende wirtschaftliche Bedeutung zur Folge.Zur "weißen Wirtschaft" gehören mindestens die folgenden Dienstleistungsbereiche, deren Aufzählung ohne Wertung und ohne Anspruch auf Vollzähligkeit erfolgt: Medienwirtschaft, Kommunikationsbranche, Telekommunikation, Bildungssektor, Wissenschaft und Forschung, Kulturbereich, Tourismus (einschl. Hotel- und Gaststättengewerbe), Spiel- und Vergnügungssektor, Sportbranche, Gesundheitswesen, Altenpflege, Schönheitspflege, soziale und humanitäre Dienste, Umweltschutzorganisationen, Kirchliche Dienste/Seelsorge, Gewerkschaften, Staatliche und kommunale Verwaltungen, Rechtspflege, Prüfungs-, Normungs- und Eichwesen, Beratungswirtschaft, Kammerwesen und Verbändewirtschaft und die Private Haushaltswirtschaft.Die mit Hilfe der neuen Kommunikationstechnologien ermöglichte Erschließung dieser Bereiche der "weißen Wirtschaft" für wirtschaftliche Wachstumsprozesse ist das eigentliche Geschenk des Faktors "K" an die Menschen in den hochentwickelten Volkswirtschaften, weil sie in die Lage versetzt werden, ihre arbeitsmarktpolitischen Verteilungsprobleme besser als bisher zu organisieren. Ergänzende Bedingung für diese Entwicklung ist, daß wirtschaftliche, technische und juristische Voraussetzungen geschaffen werden, Beschäftigung und Einkommen zunehmend auch in diesen bisher überwiegend wirtschaftsfernen Bereichen in Gang zu setzen.Die Zukunft wird der "weißen Wirtschaft" gehören, in der nicht "dunkle" Materie in handfeste Güter, sondern "heller" Geist in dienstbare Leistungen umgewandelt wird. Selbstverständlich werden wir auch zukünftig einen Bedarf an materiellen Gütern haben, aber - zumindest in den hochentwickelten Volkswirtschaften - mit abnehmendem relativen Gewicht.Globale WachstumsimpulseDaß die Explosion kommunikationstechnologischer Neuerungen in historischer Betrachtung erst heute, in einem späten Stadium der Menschheitsgeschichte, stattfindet, mag verwundern. Schließlich ist die Definition menschlicher Wesensart ursächlich mit der Fähigkeit zu kommunizieren verbunden, seit in der Keilschrift der Sumerer aus dem 3. Jahrtausend v.Chr. - den ersten überlieferten Schriftzeichen überhaupt - als Zeichen für "Mensch" ein Kopf mit geöffnetem Mund dargestellt war. Aber es bedurfte jahrtausendewährender Überlieferungen, bis im europäischen Mittelalter mit dem Gutenbergschen Buchdruck der erste große Durchbruch in die moderne Medienwelt gelang. Die Erfindung des Buchdrucks markiert die mediale Kulturscheide zwischen den vorher bestehenden oralen Regionalkulturen und den literalen Nationalkulturen, die erst in dieser von uns miterlebten Epoche in die elektronische "global village"-Kultur übergehen.Sie wurde um die Jahrhundertwende mit der erstmaligen Nutzung der Funkwellen durch Marconi eingeleitet. Diese erlangten während des Ersten Weltkrieges im militärischen Bereich Bedeutung. Die Innovation des Rundfunks durch Hans Bredow (1923) bestimmte die weitere Medienentwicklung maßgeblich, die dann mit der Entwicklung der Bildröhre, der Erfindung des Computers durch Konrad Zuse (1934) und dler hochverdichtenden Zeilenübertragung (PAL-System) durch Walter Bruch (1950) weitere markante Stationen erlebte.Alle diese bahnbrechenden medialen Innovationen haben der "Erweiterung" des Menschen im Sinne von Marshall McLuhan gedient und mit ihren kulturellen Einschnitten ökonomische Wachstumsilopulse in globaler Dimension ausgelöst. Das ist auch von den heute in Entwicklung befindlichen medialen Innovationen zu erwarten Die Einschätzung, daß wir erst am Beginn einer kommunikationstechnologisch bestimmten Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft stehen, geht von der Erkenntnis einer stetigen Verkürzung der Halbwertzeit des Wissens aus.Um 1800 betrug die Halbwertzeit - die Zeitdauer der Verdopplung - des Wissens der Menschheit noch 100 Jahre. Seit 1966 ist die benötigte Zeitdauer zur Verdopplung des Weltwissens auf fünf Jahre geschrumpft. Der Zeitraffer, mit dem bisheriges Wissen überholt und durch neues ersetzt wird, bewegt sich in einem schwindelerregenden Tempo. Heute wird weltweit jede Minute eine neue chemische Formel entwickelt, alle drei Minuten ein neuer physikalischer Zusammenhang erforscht oder eine neue medizinische Erkenntnis gewonnen. Diese Entwicklung ist zugleich Ergebnis und Ursache einer stetig zunehmenden Forschungsabhängigkeit des sekundären Sektors. Über Wettbewerbsfähigkeit und Markterfolg des Produzenten bestimmt mehr und mehr die Intensität der Verzahnung von Produktionsapparat und Forschungsbereich. Das bedeutet einmal, daß der Faktor "K" über Prozeßsteuerung, Produktentwicklung und Produktinnovation auch den industriellen Sektor zukünftig stärker bestimmen wird. Diese zunehmende Kommunikativität der Produkte hat zum anderen zur Folge, daß ihre Gestaltungsvielfalt für Anwendungen und Nutzungen im tertiären Sektor steigt. Intelligentere Produkte fördern intelligentere Nutzungen. Je kommunikativer die Industrieerzeugnisse, desto besser sind nicht nur Markterfolg und Beschäftigungslage des Produzenten, sondern desto intensiver ist ihre Multiplikatorwirkung für Anwendungs- und Nutzungsinnovationen und damit zugleich Schaffung neuer Arbeitsplätze im tertiären Sektor.abgedruckt in: DER ROTARIER, Heft 10/1996. Die neuen Medien - Macht und Ohnmacht, Hamburg, Oktober 1996

 

 

 
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