Wenn Politik versäumt, auf Paradigmenwechsel zu reagieren

Wolfgang Müller-Michaelis

Die Hilflosigkeit der Politiker, Unternehmer und Gewerkschaften angesichts der über sechs Millionen direkt bzw. indirekt Arbeitslosen ist so evident, daß es verwundert, mit welcher Gelassenheit das breite Publikum dieser Situation (bisher) zusieht. Offenbar wird dieser Zustand als Ausdruck einer geistigen Krise "erduldet", in der man die gesamte politische Klasse verstrickt sieht. Das Unvermögen, die Ursachen der sozialen Umbrüche zu erkennen und von da-her die notwendigen Lösungen zu entwickeln, ist offenkundig. Worauf ist dieses Unvermögen zurückzuführen? Es könnte in einer Wahrnehmungsschwäche beim Erkennen jenes Para-digmenwechsels liegen, der die systembildenden Strukturen und Bewegungskräfte der postindustriellen Gesellschaft zu durchdringen im Begriff ist. Blickt man nur drei Jahrzehnte zurück, wird deutlich, wo der Unterschied in den Problemen und vielleicht auch in den Lösungsmöglichkeiten liegt. Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller konnte noch auf ein geistiges Gepäck, das an den Problemfronten unmittelbar wirksam einsetzbar war, zu-rückgreifen. Er nannte es seinen wirtschaftspolitischen Hand-werks-kasten, in dem die postkeynesianischen Instrumente wohlsortiert bereitlagen. Für die Volkswirtschaft, mit der es Karl Schiller zu tun hatte, war das Instrumentenbesteck gerade noch ausreichend, um die Schwankungsamplituden von Einkommen und Beschäftigung immer wieder in Richtung des gleichgewichtigen Wachstumspfades zu trimmen.

Aber die Zeiten sind schnellebig geworden. Anstelle der "Schillerschen Romantik" haben wir es mit einer total veränderten Wirtschaftswelt zu tun. Das betrifft nicht nur die vorangeschrittene europäische Verzahnung im Vorfeld der Europäischen Währungsunion mit Einführung des Euro, sondern auch die mit erheblichen Friktionen behaftete Vereinigung der beiden deutschen Wirtschaftsräume. Es betrifft aber vor allem den Umstand, daß die Volkswirtschaft, die Karl Schiller noch einigermaßen im Griff hatte, aus einer überwiegend industriell geprägten Wirtschaftslandschaft bestand. Heute sind wir der postindustriellen Epoche demgegenüber ein gewaltiges Stück nähergerückt. Die Informationsgesellschaft, an deren Schwelle wir am Übergang in das 21. Jahrhundert stehen, bestimmt unseren Wirtschaftsalltag bereits stärker als dies in das öffentliche Bewußtsein eingedrungen ist. Ihre Heraufkunft spielt aber in unserer wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung bisher kaum eine Rolle. Genau dort liegt unser Problem.

Das volkswirtschaftliche Modell, das der Diagnose von Ralf Dahrendorf zugrunde lag, nach der der modernen Arbeitswelt die Arbeit auszugehen drohe, war noch ganz dem gewerblich-industriell bestimmten Wertschöpfungsprozeß verhaftet. Hier waren seit den Physiokraten und seit Karl Marx die Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden am Werk. Der volkswirtschaftliche Produktionsprozeß war als kombinierter Einsatz dieser Faktoren definiert. Produktiv im Sinne dieses physiokratischen Wirtschaftsverständnisses waren nur Leistungen, bei denen durch Einsatz von Arbeitskraft und Maschinen sowie durch Vernichtung natürlicher Ressourcen Güter zum Ge- oder Verbrauch erzeugt wurden. Geistige Leistungen waren systembedingt ausgeblendet. Sie waren einer an-deren Wertewelt, der des Kulturellen zugeordnet, die nicht als wirtschaftliche Kategorie galt. Die Tätigkeit eines Leh-rers, eines Schriftstellers, eines Musikers produktiv zu nennen? Undenkbar! Ihre Leistungsbeiträge zum Sozialprodukt waren im Raster der Faktorentheorie der klassischen Nationalökonomie nicht vorgesehen.

Es ist klar, daß sich die Dinge im Raum stoßen müssen, wenn wir mit dem Theoriewerkzeug der Physiokraten aus der beginnenden Industrie-Epoche die Verhältnisse der nachindustriellen Informationsgesellschaft zu ordnen versuchen; wo die Verarbeitung von Daten, Wissen und Konzepten zu immateriellen Dienstleistungen und zunehmend auch kulturelle Leistungen den wirtschaftlichen Wertschöpfungsprozeß bestimmen. So wenig sinnvoll es ist, mit Steinzeitwerkzeugen Organtransplantationen vorzunehmen, so unmöglich ist es, mit den aus den Erfahrungen der frühindustriellen Epoche überkommenen Erkenntnissen die Probleme des aufkommenden Informationszeitalters angehen zu wollen. Wenn man es dennoch versucht, darf man sich eigentlich nicht wundern, wenn sechs Millionen Arbeitslose dabei herauskommen.

Was ist zu tun? Zunächst müssen wir konstatieren, daß die Produktionsfaktoren, die den Wertschöpfungsprozeß in der Informationsgesellschaft bestimmen, andere sind als diejenigen, die das Sozialprodukt der vorwiegend gewerblich-industriellen Volkswirtschaft hervorbrachten. Das bedeutet auch zu verstehen, daß Arbeit heute nicht mehr dasselbe ist, was es für unsere Vorfahren war; daß wir den Begriffsapparat, den sie uns aus ihren Erfahrungen abgeleitet weitergereicht haben, daraufhin überprüfen müssen, ob er noch dieselben Inhalte transportiert wie zu Zeiten seiner Entstehung. Wenn wir diese Untersuchung sorgfältig genug durchführen, kommen wir zu dem Ergebnis, daß wir heute nicht mehr "arbeiten" in dem Sinne, wie dieser Begriff von unseren Vorfah-ren verstanden und gelebt wurde - als überwiegend physischer Kräfteeinsatz, den zu erbringen Überwindung kostete, zumal er mit einer Fülle von Mühsalen verbunden war. In unserer heutigen Volkswirtschaft gibt es nur noch eine verschwindend geringe Anzahl von Tätigkeiten, die in diesem althergebrachten Sinne Arbeit sind. Das gilt selbst für den gewerblich-industriellen Sektor, bei dem uns nur eine längst überholte Methodik der statistischen Erfassung vorgaukelt, hier würde Industriearbeit stattfinden. Bei genauem Hinsehen stellen wir fest, daß rund zwei Drittel der in der Industrie Beschäftigten heute dienstleistende Tätigkeiten ausüben, mit weiter steigender Tendenz. Und bei noch schärferer Einstellung der Analyse-Lupe kommt ans Licht, daß selbst die Industriearbeiter beim heutigen Stand der Produktionstechnik zu einem Großteil eher komplementäre Handgriffe erbringen und auch ihre Tätigkeit überwiegend und zunehmend stärker konstrollierender und überprüfender, d.h. geistig-dispositiver Art ist, wie dies für die Angestellten und das Management schon immer galt.

An dieser Stelle muß zur Vermeidung von Mißverständnissen eingefügt werden, daß die weitgehende Ersetzung der Industriearbeit durch den Industrieroboter der Bedeutung der Industrieproduktion für das Wirtschaftswachstum keinen Abbruch tut, sondern daß sie im Gegenteil aus dieser Substitution ihre dauerhafte Wertschöpfungskraft zieht. Die allseits vorherrschende Irritation über diese eskalierende jobless-growth-Orientierung der industriellen Produktion könnte dann einer gelassenen Akzeptanz dieses Strukturwandels weichen, wenn wir zuverlässige Indikationen darüber gewönnen, wo denn die neuen Beschäftigungsfelder im Entstehen begriffen sind, die an die Stelle der dahinschmelzenden Industriearbeit treten könnten. Da trifft es sich gut, daß wir bei der Analyse des gesellschaftlichen Strukturwandels, der mit dem Übergang in die postindustrielle Wirtschaft verbunden ist, feststellen, daß unser Arbeitsalltag schon heute - wenn wir die regenerativen Verrichtungen außenvorlassen - zu etwa 80 Prozent von kommunikativen Betätigungen der jeweils berufsspezifischen Art bestimmt wird. Dies gilt entsprechend auch für das Zeitprotokoll unseres Freizeitverhaltens, was für die Nachfrage nach komplementären kommunikativen Leistungen in der Informationsgesellschaft von systemtragender Bedeutung werden dürfte. Die inzwischen erreichte weitgehende Ausfüllung sowohl von herkömmlicher Arbeit als auch von Freizeitverhalten durch kommunikative Betätigungen ist der eigentliche Grund dafür, daß Information und Kommunikation im Begriff sind, zum entscheidenden Produktionsfaktor der postindustriellen Wirtschaft zu avancieren; zumal parallel dazu sowohl der volkswirtschaftliche Kapitalstock als auch die privaten Ausrüstungen in zunehmender Dichte mit moderner Informations- und Kommunikationstechnologie penetriert werden.

Dies hat vor allem auch zur Konsequenz, daß traditionell wirtschaftsferne Bereiche wie Bildung, Kultur, Reisen, Sport und Unterhaltung, die sich aufgrund ihrer ausgeprägten Kommunikativität zu Wachstumsträgern der Informationsgesellschaft entwickeln könnten, Beschäftigungspotentiale großer Dimension in sich bergen. Denn der den Wertschöpfungsprozeß immer stärker bestimmende Faktor "K" wird die arbeitsplatzvernichtende Wirkung steigender Kapitalintensität und Arbeitsproduktivität, die gemeinsam zur arbeitsmarktpolitischen Achillesferse der industriellen Volkswirtschaft wurden, dadurch aufheben, daß er mit zunehmender Ausbreitung und Anwendungsvielfalt der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien in etablierten und neu entstehenden Dienstleistungsbereichen eben nicht auf Ersetzung des dispositiv tätigen Menschen sondern im Gegenteil auf die Erschließung immer neuer Einsatzmöglichkeiten gerichtet ist. Ein wesentlicher Grund für das gängige Fehlurteil über die sozialen Folgen der Neuen Medien dürfte darin liegen, daß man es unzulässigerweise aus ihrem Einsatz in traditionellen Berufen und Prozeßabläufen herleitet, wo sie, wie jeder frühere technische Fortschritt auch, Arbeitsplätze mit mechanischen und monotonen Tätigkeitsmerkmalen ersetzen. Dabei wird übersehen, daß die Interaktivität der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien Leistungen ganz neuer Art hervorbringt, die es vor der multimedialen Revolution gar nicht geben konnte. Hier ist ein neuer Wirtschaftssektor im Entstehen begriffen, den ein heftiges Gründungsgeschehen auszeichnet und dessen boomende Nachfrage nach geschultem IT-Personal der gegenwärtige Arbeitsmarkt paradoxerweise nicht befriedrigen kann. Digi-talisierung, globale Vernetzung, Interaktivität und Ubiquität seiner Verbreitung machen den Faktor "K" zu einem Universalmedium, das zum Abbau der Arbeitslosigkeit dauerhaft beizutragen vermag.

Der beschäftigungswirksame Transformationsprozeß zur Penetrierung dieser neuen Technologie auch in etablierten Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft erfordert Reformen der Steuer- und Sozialgesetzgebung, die politisch durchsetzbar sein sollten, da sie keine zusätzlichen Lasten für Staatshaushalt und Sozialbudget mit sich bringen, sondern Umschichtungen in den bestehenden Budgets voraussetzen. Zwei Beispiele seien dafür angeführt. Der Privathaushalt dürfte aus einer ganzen Reihe von Gründen in der Informationsgesellschaft seine Rolle in der wirtschaftlichen Wertschöpfung zurückerlangen, die er in vorindustrieller Zeit bereits innehatte. Werden zum Beispiel die kommunikativen Leistungen der nach heutigem Sprachgebrauch "nicht berufstätigen" Hausfrau künftig als Managerin der Dienstleistungsstätte Privathaushalt und als Erziehungshelferin für den Nachwuchs vergütet (z.B. über einen Dienstleistungsscheck des Haushaltsvorstandes, den dieser nach französischem Vorbild von der Steuer mit höherer Präferenz als heute bereits möglich absetzen können müßte und der nebenher durch IT-gesteuerte Beitragsabführung das Sozial- und Krankenversicherungsproblem für diese bisher unentgeltlich aber hart arbeitende Personengruppe lösen würde), brächte allein dies eine erhebliche Entlastung der Arbeitslosenstatistik; zumal dann, wenn der steuerlich derart ausgestattete Dienstleistungsscheck generell zum Zuteilungsinstrument für sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit im Niedriglohnbereich avancieren würde.

Das zweite Beispiel betrifft die angesichts der grundlegend veränderten Arbeitsbedingungen in der postindustriellen Wirtschaft überfällige Reform der Arbeitslosenversicherung. Sie verdankt ihre Einführung den Friktionen, die sich aus den unumgänglichen strukturellen Umbrüchen in der Frühzeit der Industrialisierung ergaben. Sie ist aber in ihrer karitativen Nothilfefunktion unter den völlig veränderten Umfeldbedingungen einer Informationsgesellschaft nicht mehr zeitgemäß. Der Arbeitnehmer, der in der Informationsgesellschaft seinen bisherigen Job aufgeben muß, benötigt eine zur Überbrückung auf die nächste Tätigkeit kontinuierlich weiterlaufende Einkommenssicherung aus einer Beruflichen Weiterbildungsversicherung, mit der zugleich seine kommunikative Leistung entlohnt wird, aktiv dazu beizutragen, wieder in eine Anschlußtätigkeit zu gelangen; d.h. es werden statt gigantische finanzielle Ressourcen für die Bezahlung von Untätigkeit zu verschwenden, aktive Weiterbildungsanstrengungen honoriert, die denknotwendig die einzig sinnvolle Strategie darstellen, aus der Misere herauszukommen. Es ist also das genaue Gegenteil der heutigen Regelung, die aus Gedankenlosigkeit nicht einer gewissen Inhumanität entbehrt:

  • der durch Job-Verlust bereits Geschädigte wird nicht mehr zusätzlich begrifflich stigmatisiert und als aus dem gesellschaftlichen Einkommenskreislauf Ausgestoßener deklariert, da er ein aus der von ihm mitgetragenen Versicherungsleistung finanzierter Einkommensbezieher bleibt;
  • der aus seiner bisherigen Tätigkeit Ausscheidende wird nicht mit der gerade für diese Situation ungeeigneten Auflage des "untätigen Wartens" belegt, sondern er wird motiviert, seine wirtschaftliche Situation durch "belohntes Engagement" wieder zu verbessern, zumal sein Selbstwertgefühl keinen Schaden nimmt, da er diese Bemühungen aus einer wenn auch eingeschränkten, so doch gesicherten Ein-kommenssituation heraus unternimmt;
  • Berufliche Weiterbildung wird im Zeitalter von Multimedia (das gilt für die gesamte Spannbreite von einfachen bis anspruchsvollen Berufsbildern) eine eher positiv besetzte Erlebniswelt sein; wie überhaupt die neuen Formen des Edutainment für das gesamte Bildungswesen zu den gesellschaftspolitischen Attraktionen des Informationszeitalters gehören dürften. Wird heute das Schicksal der Arbeitslosigkeit erlitten, werden morgen regelmäßige Weiterbildungsphasen zu selbstverständlichen und vermutlich sogar gesuchten Einschüben des Berufslebens gehören, auch für all jene, die in einem festen Arbeitsverhältnis stehen;
  • würden wir die volkswirtschaftlichen Ressourcen, die heute in einer aufgeblähten und weitgehend unproduktiven Arbeitsverwaltung versickern (1997 beliefen sich die volkswirtschaftlichen Kosten der Arbeitslosigkeit in Deutschland auf 180 Mrd. DM), in eine Berufliche Weiterbildungsorganisation überführen, würden hierdurch nicht nur die Arbeitslosen zu sinnvoll Beschäftigten, sondern es würden darüber hinaus Impulse für den neuen Wachstumssektor "Bildung" ausgelöst: mit der Schaffung von Massenarbeitsplätzen für das Weiterbildungspersonal sowie mit dauerhaften Investitionseffekten, die mit der stetigen Erneuerung der Bildungselektro-nik auf dem jeweiligen Stand der Technik verbunden sind.

So gliedert die innovative Kraft des neuen Wirtschaftsfaktors "K" nicht nur die Arbeitslosen in den gesellschaftlichen Leistungsprozeß wieder ein, sondern er überführt auch in bisher wirtschaftsfernen Bereichen weitgehend unentgeltlich erledigte "real existierende Beschäftigung" in entlohnte Wertschöpfungsbeiträge. Auf diese Weise entstehen neue kommunikative Arbeitsplätze, die auf Dauer zusätzliche kaufkräftige Nachfrage schaffen. Sie wird zum Impulsgeber für ein von modernen Dienstleistungen getragenes Wirtschaftswachstum, das die im produktiven Kernbereich schon weitgehend "arbeitsleere" industrielle Wertschöpfung mit zunehmender Wachstumsdynamik ergänzt.

© B-I-K Consulting
    

November 1998

 
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