Zukunft der Arbeit - Arbeit mit Zukunft

Wolfgang Müller-Michaelis

Bundeskanzler Kohl hat es zum wichtigsten Ziel der Bundesregierung erklärt und in der Öffentlichkeit ist es als an die Adresse der Industrie gerichtete Forderung verstanden worden: die Arbeitslosigkeit bis 2000 zu halbieren, zwei Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen.

BDI-Präsident Olaf Henkel, von TV-Moderatoren in die Mangel genommen, kann dazu in aller Verlegenheit nur bekennen: Er sei für die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht der richtige Ansprechpartner, denn "die müssen woanders entstehen". Recht hat der Mann. Das große Mißverständnis und zugleich Versagen der deutschen Wirtschaftspolitik ist, daß sie Industrie- und Standortpolitik mit Arbeitsmarktpolitik gleichsetzt bzw. verwechselt.

Während das anlagesuchende Investitionskapital längst einen weiten Bogen um Deutschland macht, tut die deutsche Politik bisher wenig dazu, es wieder anzulocken. Setzt man die ausländischen Direktinvestitionen, die von 1986 bis 1995 in die USA flossen (es waren 475 Mrd. Dollar) gleich 100, dann entfallen auf: Großbritannien 40, Frankreich 20, Belgien 13, Niederlande 11, Italien 8. Deutschland bringt es nur auf eine 6! Angesichts dieses Befundes kann es keine Frage sein, daß alles getan werden muß, was in Richtung Deregulierung, Flexibilisierung, Abbau der Lohnnebenkosten geht, um den Standort Deutschland wieder aus dem "Tal der Unattraktivität" herauszuholen.

Allerdings darf man eine Erwartung mit dieser Politik nicht verbinden: daß dadurch neue Industrie-Arbeitsplätze geschaffen würden. Das gelingt selbst in der den technischen Fortschritt anführenden Elektrotechnischen Industrie nicht, um wieviel weniger darf dies von den weniger High-Tech-intensiven und produktivitätsschwächeren Industrien erwartet werden. Die Elektroindustrie hat heute 880.000 Beschäftigte, nachdem in den beiden Vorjahren jeweils 30.000 Arbeitsplätze verlorengegangen sind. Auch 1997 werden 30.000 Stellen abgebaut, in den Folgejahren sind weitere Reduzierungen absehbar.

Eine zukunftsgerichtete Wirtschaftspolitik muß davon ausgehen, daß sich dieser Arbeitsplätzeabbau irreversibel im Produktionsbereich abspielt. Auf ihn entfallen heute etwa die Hälfte der elektroindustriellen Beschäftigung und sie wird auf ein Drittel zurückgehen. Heute die Hälfte und zukünftig zwei Drittel der Beschäftigten in der Elektroindustrie entfallen demnach auf dienstleistende Berufe. Zu dieser Tendenz paßt, daß unser Sozialprodukt bereits heute zu zwei Dritteln im nicht-industriellen "tertiären Sektor" erwirtschaftet wird. Wie bei den ausländischen Direktinvestitionen hinkt Deutschland auch hier im internationalen Vergleich hinterher. In Großbritannien und Frankreich hat der Anteil des tertiären Sektors am Sozialprodukt 70 Prozent erreicht, in den USA sogar 75 Prozent. Unter den deutschen Bundesländern hat nur Baden-Württemberg Vergleichbares vorzuweisen. Hier sind fast 90 Prozent der seit 1980 geschaffenen Arbeitsplätze im tertiären Dienstleistungssektor entstanden.

Nicht zufällig handelt es sich hierbei um jenen Wirtschaftsbereich, der seine arbeitsplatzschaffende Kraft der hohen Affinität seiner Leistungsformen zu den Nutzungs- und Anwendungsmöglichkeiten der neuen Informations- und Kommunikations-(I+K)Technologien verdankt, die als tragende Innovationen der post-industriellen Informationsgesellschaft gelten. Für McKinsey-Chef Herbert Henzler steht fest, daß die Strukturschwäche der deutschen Volkswirtschaft darin besteht, "zu lange auf den traditionellen Technologien beharrt zu haben." Er verweist auf die USA, die uns in zukunftsweisenden Wirtschaftsbereichen fünf bis zehn Jahre voraus seien: "üblicherweise haben die USA den drei- bis vierfachen Produktionswert gegenüber Deutschland. In der Software aber haben sie die achtfache Beschäftigung und in der Elektronik die fünffache. Was diese Zukunftsgebiete angeht, stimmt bei uns also offensichtlich das Verhältnis der Beschäftigung nicht."

Nach einer Untersuchung von Booz, Allen & Hamilton wuchs die Produktion der US-Kommunikationswirtschaft zwischen 1990 und 1995 fast viermal, in Südkorea nahezu sechsmal so stark wie in Europa. Hätten wir die gleichen Wachstumsraten wie die USA, würden in Europa allein in der I+K-Wirtschaft jährlich eine Viertelmillion neuer Arbeitsplätze entstehen, in Deutschland allein fünfzig- bis hunderttausend. Tatsächlich aber ist im Unterschied zu den fortschrittlichen I+K-Ländern für Deutschland in "schildbürgerlicher" Tradition Blockade, Regulierung und Vollbremsung angesagt. So streiten die Ministerpräsidenten der Länder darüber, die modernen Telematik-Dienste - nur weil sie wie das Fernsehen über Bildschirme dem Kunden übermittelt werden - dem Rundfunkbegriff zu unterwerfen. Auf diese Weise soll eine der Distanz- und Grenzüberschreitung dienende, Handel, Wandel und Arbeitsplätze schaffende Technologie kleinstaatlicher Kontrolle unterworfen werden.

Einem Großanbieter medialer Dienste, der mit Investitionen und zukunftsträchtigen Arbeitsplätzen auf den Markt drängt, wird dieser Tage vor Gericht beschieden: da er sich in Bayern habe registrieren lassen, solle er sich mit diesem Markt zufrieden geben, denn im übrigen Deutschland gäbe es bereits einen Anbieter - mehr sei für den deutschen Verbraucher nicht zumutbar. Andere Anbieter werden mit prohibitiv hohen Lizenzgebühren abgeschreckt. Während in Großbritannien und in den USA vergleichbare Lizenzen einige zehntausend Mark kosten, sind in Deutschland Beträge von über 40 Mio. DM im Gespräch. Bundesfinanzminister Waigel hat im Bundeshaushalt für Einnahmen aus dieser Quelle schon mal 1,5 Mrd. DM eingeplant. Der Standort Deutschland, der es nötig hätte, bietet keine guten Startbedingungen für die neue Technologie, die in anderen Teilen der Welt die mediale Zeitenwende längst eingeleitet und dort ihre Kraft zur Schaffung neuer Arbeitsplätze unter Beweis gestellt hat.

Angesichts dieser Ausgangslage tun sich die Wirtschaftsforschungsinstitute mit ihren Schätzungen schwer und beschränken sich bei ihren Prognosen auf die Beschäftigungsentwicklung innerhalb des Informations- und Kommunikationssektors selbst. Ob Ifo, Prognos, DIW oder A.D. Little - niemand wagt für diesen Bereich unter den gegebenen restriktiven Marktbedingungen Schätzwerte zu nennen, die bis 2010 über 200.000 neu zu schaffender Arbeitsplätze hinausgehen. Bei diesen Berechnungen bleibt die Multiplikatorwirkung auf die Beschäftigung unberücksichtigt, die sich aus den spezifischen Einsatzvorteilen der "neuen Medien" sowohl in traditionellen als auch neu entstehenden Nutzungs- und Anwendungsbereichen ergibt. Hier aber wird der entscheidende Beitrag der "neuen Medien" für die Lösung des Beschäftigungsproblems liegen. Das rege Gründungsgeschehen im Bereich klein- und mittelständischer Unternehmen (KMUs), die I+K-gestützte Dienstleistungen jedweder Art anbieten, ist Trendsetter dieser Entwicklung.

Impulsgeber ist eine spezifische Eigenart, die die I+K-Technologie von früheren Innovationen unterscheidet. Ihr wohnt wegen der hohen Affinität ihrer Nutzungsmöglichkeiten zu gesellschaftsdienlichen Leistungen eine besondere Kraft inne: Traditionell wirtschaftsferne Bereiche wie Bildung, Kultur, soziale und humanitäre Dienste, Unterhaltung, Tourismus und Sport in Beschäftigungsfelder der sogenannten "weißen Wirtschaft" zu überführen. Hier werden seit Menschengedenken gesellschaftliche Grundbedürfnisse in einem außerökonomischen Leistungsaustausch befriedigt. Praktisch unbegrenzte Wachstumspotentiale des gesellschaftlichen Zukunftsbedarfs warten hier darauf, daß sich die neuen Beschäftigungsstrukturen der Informationsgesellschaft auf sie ausrichten. Erst unter Einsatz der I+K-Technik mutieren die dort geleisteten Dienste zu abrechenbaren Leistungen. Auf diese Weise wird "real existierende Beschäftigung" in den volkswirtschaftlichen Einkommenskreislauf überführt. Es entstehen, zumal wenn dieser Prozeß politisch gesteuert wird, neue Arbeitsplätze. Der steuerlich absetzbare und automatisch Sozialversicherungs- und Krankenkassenbeiträge abführende Dienstleistungsscheck ist ein beispielgebender Feldversuch, Teilzeitarbeitsplätze unter Nutzung der verfügbaren I+K-Netzwerke zu schaffen.

Der Wanderungsprozeß der Arbeitsplätze von der Industrie in die "weiße Wirtschaft" wird sich über längere Zeiträume erstrecken, so daß die Arbeitsmarktbilanz auch im übergang zur Informationsgesellschaft zunächst defizitär bleiben dürfte. Unter der Voraussetzung flankierender Wirtschafts- und Sozialpolitik verbessert aber das Universalhandwerkszeug PC mit seiner globalen Vernetzung die Chancen für jedermann, Arbeit zu finden. Selbst bei vorübergehendem Jobverlust tun sich neue Möglichkeiten auf, mit Hilfe beruflicher Weiterbildung, aus Versicherungsleistung finanziert und mit attraktiver Bildungselektronik vemittelt, nicht nur Einkommensbezieher zu bleiben sondern auch sinnvoll beschäftigt zu sein.

© B-I-K Consulting
    

Februar 1997

 
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